Kia Niro EV im Langzeittest: Ist er das perfekte Elektroauto?

Der Redakteur Jochen Wieler läd den Kia Niro EV in der Stadt an einer Ladestation
Kia Niro mit extrovertiertem Design© ADAC/Lena Willgalis

Kia kann Elektro. Das hat die koreanische Marke bereits mit dem ersten Niro bewiesen, als alltagstaugliche Reichweiten bei E-Autos noch keine Selbstverständlichkeit waren. Kann sein Nachfolger noch einen draufsetzen? Der Elektro-Niro im Langzeittest.

410 Kilometer Reichweite, sparsame 17,9 kWh Verbrauch auf 100 Kilometer, fünf volle Sterne im ADAC Ecotest und dazu eine tolle Autotest-Gesamtnote von 1,9 für den Kia Niro EV. Kein Wunder, dass die ADAC Testingenieure den VW-ID-3-Konkurrenten als "uneingeschränkt familientaugliches Alltagsauto" loben.

Eine gute Bewertung im objektiven ADAC Autotest ist das eine. Aber was im Alltag wirklich nervt und wo es noch Raum für Verbesserungen gibt, lässt sich oft erst über einen längeren Testzeitraum herausfinden. Daher hat die ADAC Redaktion den Niro EV aktuell noch einmal ausführlicher für sechs Monate unter die Lupe genommen. Testobjekt: Ein Kia Niro EV in "Snow White Pearl" mit der Ausstattung Inspiration zum Preis von 47.590 Euro (Stand März 2023). Mit Extras 53.290 Euro. Hier das Tagebuch der Redaktion.

+++ 1.3.2023 +++

Erster Eindruck. Gar nicht mal so klein, der Niro – auch wenn er sich offiziell in der Kompaktklasse befindet. Mit 4,42 Meter Länge rangiert er aber an deren oberem Ende. Das schlägt sich in einem guten Platzangebot nieder. Viel Platz vorn, tolle Beinfreiheit hinten, so sehen Familienautos aus. Der Kofferraum fällt nicht ganz so riesig aus, aber der ADAC Messwert bis zur Kofferraumabdeckung besagt zumindest 347 Liter. Zum Vergleich: Ein Mercedes C-Klasse Kombi kommt auf nicht viel mehr: 370 Liter laut Messung. jw

+++ 20.3.2023 +++

Der Antrieb. Startknopf drücken, den runden Knubbel auf der Mittelkonsole auf "D" drehen und Gas geben. Schon setzt sich der Kia wie auf Samtpfoten in Bewegung. Ruckfrei, lautlos und gut dosierbar stromert der Koreaner davon, bei Bedarf auch eiliger: Mit soliden 150 kW/204 PS Leistung hat der Kia stets so viel Power auf Abruf, dass spontane Spurts und flotte Überholmanöver im Nu erledigt sind (0 bis 100 km/h in 7,8 Sekunden). Einfach kurz aufs Gas, und es geht wie bei einem E-Auto üblich verzögerungsfrei und mit Nachdruck voran. Die Spitze ist zwar bei 167 km/h begrenzt, doch das Tempo reicht völlig. Auf der Autobahn fühle ich mich nicht deplatziert. Der Reichweite zuliebe bin ich meist eh nicht schneller als 130 km/h. jw

+++ 4.4.2023 +++

Detailansicht am Lenker des Kia Niro EV
Ist der Abstandstempomat aktiviert, kann der Niro eigenständig auf die Überholspur wechseln© ADAC/Lena Willgalis

Was sinnvoll ist – und was nicht. Assistenzsysteme erhöhen die Fahrsicherheit, so viel steht fest. So hat auch der Kia Niro eine Armada von Helferlein an Bord, die ihre "Augen" überall haben. Heute war ich richtig froh darüber, als ich im Blindflug zwischen parkenden Autos rückwärts auf die Straße stoßen wollte. Einen schnellen Radfahrer hätte ich dabei wohl nicht gesehen. Der Kia schon. Und warnt nicht nur via Piepkonzert, er haut auch die Bremse rein. Klasse.

Sinnfrei finde ich dagegen die Möglichkeit, den Kia auf der Autobahn selbsttätig überholen zu lassen. Fährt man mit Abstandstempomat, reicht es, den Blinker anzutippen, und der Wagen zieht vorsichtig auf die Überholspur. Und auch wieder zurück. Was bringt's außer einem Show-Effekt? Für mich hat diese Funktion absolut keinen Mehrwert. jw

+++ 15.4.2023 +++

Die Bedienleiste ist doppelt belegt: Von Radio- auf Klimasteuerung schaltet man via Knopfdruck um ∙ Bild: © ADAC/Lena Willgalis, Video: © ADAC e.V.

Bedienung. Um eine Tastenflut zu umgehen, hat sich Kia – wie bei anderen Modellen auch – etwas Besonderes einfallen lassen. Die Touchleiste unterhalb des Bildschirms ist zweifach belegt und steuert entweder die Klimaanlage oder das Infotainment. Ein Fingerdruck auf eine orangefarbene Fläche genügt, und man schaltet zwischen beiden Grundfunktionen um. Ganz ehrlich: Im Alltag finde ich das eher lästig. Denkt man nicht dran und will am Lautstärkeknopf drehen, wird es stattdessen wärmer oder kälter. Bis man's dann wieder "gerichtet" hat, vergeht zu viel Zeit der Ablenkung. jw

+++ 30.4.2023 +++

Der Verbrauch. Ziemlich kalt, dieses Frühjahr. Das merkt man auch beim E-Auto-Fahren. Temperaturen im einstelligen Bereich ziehen auf der Autobahn bei Tempo 120 bis 130 km/h einen Verbrauch von rund 22 kWh nach sich. Macht nach Adam Riese hochgerechnet 300 Kilometer Reichweite. Ob wir bei angenehmeren Temperaturen im Sommer auf bessere Werte kommen? jw

+++ 18.5.2023 +++

Die Ladeanzeige des Kia Niro EV
Typische Ladekurve: Bis 80 % betrug die Ladeleistung noch 25 kW, ab 81 % nur noch 2 kW© ADAC/Thomas Kroher

Auf Reisen. Und dann ist der Sommer doch da: Nach gefühlt einem Monat Dauerregen startet der Kia an Christi Himmelfahrt mit uns auf seine erste große Fahrt – nicht gen Firmament, sondern erst nach Leipzig und zurück über das westböhmische Bäderdreieck und die Bierstadt Pilsen.

Erste Aufgabe: Das Gepäck. Zwei große Golfbags samt Trolley-Wägen, drei große Reisetaschen und diverser Kleinkram: Dank umgeklappter Rückbank überhaupt kein Problem.

Zweite Aufgabe: Strom zapfen. Bis Leipzig kein Problem. Und auch Tschechien sollte nach dem ersten Blick auf die Karte der ADAC-e-Charge-App keine Probleme machen. Doch leider vergaß ich, den Filter "DC-Laden" einzustellen, denn AC-Ladestationen gibt es im östlichen Nachbarland zwar viele, doch DC-Schnelllader kaum. Konnten wir dann doch mal eine ansteuern, floss der Strom (mit einer Ausnahme, siehe Bildergalerie) meist nur mit knapp über 50 kW statt der theoretisch möglichen 80 kW Leistung. Gut, wenn die Zeit für einen Imbiss genutzt werden konnte.

Und die dritte Aufgabe: Wenig verbrauchen. Tatsächlich ist der Kia ein Kind des Sommers. So wie wir bestes Golfwetter genießen konnten, war auch der Niro auf den böhmischen Bundesstraßen bei warmen Wetter in seinem Element. Magere 17,3 kWh auf 100 Kilometer standen am Ende der Reise auf der Bordcomputer-Anzeige – vollbeladen und mit einer Leistung, die in jeder Fahrsituation überzeugte, ein hervorragender Wert. kro

Der Elektro-Kia auf Reisen

+++ 16.6.2023 +++

Dicke Luft. Gemerkt haben wir schon länger, dass die Klimaanlage des Niro EV nicht funktioniert. Doch jetzt, wo es wärmer wird, würden wir uns schon gern statt des lauen Lüftchens eine kühle Brise um die Nase wehen lassen. Ab in die Werkstatt. Dort wurde das Problem schnell gefunden: Es war kein Kühlmittel vorhanden. Also Kühlmittel rein, Dichtheitsprüfung (alles gut) und schon macht die Klimaanlage das, was sie soll. Wurde der Niro schon "ab Werk" ohne Kühlmittel ausgeliefert? Offenbar. jw

+++ 12.7.2023 +++

Der Kia Niro EV seitlich fahrend zu sehen
Bei gleichmäßiger Fahrt in der Stadt ist der Niro EV sensationell sparsam© ADAC/Lena Willgalis

Echt sparsam. Ja, es ist Sommer. Und das mag der Kia, beziehungsweise die Antriebsbatterie. Auf der Autobahn (bei 130 km/h) sind nun problemlos Verbrauchswerte von 16 kWh möglich! Im Vergleich zum Winter (siehe oben) eine ziemliche Diskrepanz. Bei gleichmäßiger Fahrt auf dem Mittleren Ring in München mit 50 bis 60 km/h hat der Bordcomputer heute sogar einen Rekordwert von 8,5 kWh/100 km ausgewiesen. Das wären unter diesen Bedingungen mehr als 700 Kilometer Reichweite! Aber wer will schon so lang um die Stadt kreisen? jw

+++ 24.7.2023 +++

Ohne Fahrer: Der Kia Niro lässt sich fernsteuern ∙ Bild/Video: © ADAC e.V.

It's magic. Zugegeben, ich hatte den Fall noch nie, eingeparkt worden zu sein. Aber es könnte ja mal vorkommen, dass sich ein nicht so netter Zeitgenosse so eng neben den Kia stellt, dass die Fahrertür nicht mehr aufgeht. Für diesen Fall kann man den Niro ferngesteuert ein paar Meter nach vorn oder nach hinten rollen lassen – ganz ohne dass jemand am Steuer sitzt. So geht's: Man sollte in unmittelbarer Nähe zum Fahrzeug stehen, aber auch nicht zu nah dran, denn das Auto weigert sich, seinen Fahrer zu überfahren oder Passanten, die gerade vorbeilaufen. Was auch gut so ist, Hindernisse erkennt der Niro zuverlässig. Dann an der Schlüssel-Fernbedienung den Knopf fürs Abschließen drücken, danach den für das Remote-Parken ein paar Sekunden halten und dann den Knopf für vorwärts oder rückwärts drücken. Und schon rollt der Kia von selbst durch die Gegend. Einfach mal ausprobieren. Und selbst, wenn einen keiner eingeparkt hat: Die Show ist unbezahlbar. jw

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+++ 28.7.2023 +++

Klimaanlage, zweiter Akt. Es zischt und faucht aus Richtung Klimaanlage, und zwar so unangenehm, dass wir wieder die Werkstatt ansteuern. Die prüft erneut und stellt nun doch eine Undichtigkeit im System fest. Mit neuen Teilen versehen, ist der Wagen nach zwei Tagen wieder abholbereit. Erstaunt sind wir aber, dass bei der Gelegenheit ein paar zusätzliche Dinge erledigt worden sind: Kleinigkeiten, Updates, Verbesserungen, die der Hersteller für ein Fahrzeug einer bestimmten Baureihe vorsieht. Wenn das Auto in die Hände der Werkstatt gelangt, wird so etwas (kostenlos) mitgemacht. Bei unserem Niro unter anderem ein Update der Motorsteuerung, eine Verbesserung der GPS-Lokalisierung des Navis (das plant jetzt auch Ladestopps mit ein), im Sicherungskasten wurde ein Aufkleber angebracht, der Anhängerbetrieb feingetunt und Windgeräusche eliminiert mit Hilfe eines Karosserieklebers am "Windlauf des Längsträgers rechts". Ahja. jw

+++ 3.8.2023 +++

Straßenschilder an einer Elektro-Fahrzeug-Ladestation
Vorsicht bei Gewitter: Der Blitz könnte ins Kabel einschlagen© ADAC/Thomas Kroher

Gewitterwarnung. Blauer Himmel und weit und breit keine Wolke – gut so! Denn sollte an der Schnellladestation am Freisinger Gartencenter ein Gewitter aufziehen, müsste ich mit meinem Kia unbestromt heimfahren oder zumindest warten, bis sich das Unwetter wieder verzogen hat. Denn: "Bei Gewitter ist der Aufenthalt im Umkreis von drei Meter um die Ableitung verboten!" Gut zu wissen. Und in Zukunft werde ich bei der Fahrtvorbereitung nicht nur die Ladestation-Such-App des Stromanbieters nutzen, sondern vorsorglich auch das Wetterradar studieren. kro

+++ 4.8.2023 +++

Ein KIA Niro EV an dem eine Kaffeemaschine angeschlossen ist
Läuft! Der Strom für die Espressomaschine kommt aus dem Akku des Kia Niro EV© ADAC/Tanja Hirner

Zauberwort Vehicle-to-load (V2L). Mit einer Vehicle-to-load-Funktion (Abkürzung V2L) am Elektroauto kann man seine Freizeit neu gestalten. Wo immer es an Strom mangelt, springt das E-Auto damit als Stromquelle ein. Viele E-Autos können das noch nicht, der Niro schon. Ein Adapter für die Ladebuchse am Auto liegt dafür im Frunk bereit. Man steckt ihn auf und schon steht eine herkömmliche 230-Volt-Steckdose zur Verfügung. Heute haben wir zuerst eine Espressomaschine ausprobiert, dann eine Handkreissäge. Während die Kaffeemaschine einwandfrei funktionierte, gab die Handkreissäge nur einen kurzen Mucks von sich. Auch mehrmalige Versuche blieben erfolglos. Das Kontrolllicht am Auto sprang von Grün gleich wieder auf Rot. Ist ist das V2L-System nicht auf Kleingeräte mit hohem Strombedarf ausgelegt? Die Kreissäge zieht 1010 Watt. Eigentlich schon, sagt die Kia-Pressestelle: "Die angegebene Leistung stellt in der Regel kein Problem dar". Und will checken, ob ein Fehler vorliegt. wr

+++ 22.8.2023 +++

Der Kia Niro EV fährt in einer Kurve
Merkliche Seitenneigung in der Kurve: Dafür federt der Kia sehr ordentlich© ADAC/Lena Willgalis

Komfort ist Trumpf. Nach ein paar Tagen Fahrt in einem Tesla Model Y mit ziemlich straff abgestimmtem Fahrwerk fällt mir auf, wie komfortabel der Kia dagegen federt. Unebenheiten spürt man im Koreaner nur gut gedämpft. Sehr angenehm. Die sportliche Direktheit des Tesla kann der Niro dagegen nicht bieten. Seine Lenkung wirkt im Vergleich unverbindlicher und durch das weiche Fahrwerk neigt sich der Kia merklich in der Kurve. Macht aber nichts, ein Sportwagen will er schließlich auch nicht sein, die kommode Abstimmung steht dem Familienauto gut. Nicht zu verachten ist auch die Sitzbelüftung an heißen Tagen. Schweißnasse Hemden am Rücken sind so kein Thema. jw

Fazit

+++ 18.10.2023 +++

Der Redakteur Jochen Wieler läd den Kia Niro EV an einer Tankstellen-Ladestation
Nicht mehr Stand der Technik: Der Niro lädt an der CCS-Schnellladesäule mit maximal 80 kW© ADAC/Lena Willgalis

Eigentlich schade, dass die Zeit mit dem Kia Niro EV schon wieder zu Ende ist. Denn den kompakten Stromer haben wir als sehr angenehmes Auto empfunden, das im Alltag problemlos funktioniert, mit seinem starken Antrieb Freude macht und mit einer brauchbaren Reichweite auch vor längeren Fahrten nicht kapituliert. 300 (Winter) bis 400 Kilometer Reichweite (Sommer) auf der Autobahn sind problemlos möglich, auf Landstraßen und in der Stadt auch erheblich mehr. Einen Verbrennungsmotor haben wir im Niro zu keiner Zeit vermisst.

Wie beliebt der Kia Niro EV in der Redaktion war, zeigt die Kilometerleistung. In einem halben Jahr (März bis September) wurden mit dem Koreaner knapp 10.000 Kilometer zurückgelegt – das ist für ein rein batterieelektrisches Fahrzeug ein beachtlicher Wert.

Der offizielle WLTP-Verbrauchswert beträgt für den Kia Niro EV 16,2 kWh pro 100 Kilometer. Laut ADAC Ecotest ist mit einem Verbrauch von 17,9 kWh zu rechnen. Aber natürlich variierten die Verbrauchswerte im Alltag je nach Streckenprofil und jahreszeitlich bedingter Außentemperatur erheblich. Bei Autobahnfahrten um Tempo 130 herum brauchte der Kia bei Temperaturen um die 5 Grad Celsius rund 22 kWh pro 100 Kilometer. Im Sommer bei 25 bis 30 Grad dagegen sank der Autobahnwert auf bis zu 16 kWh. Niedrig-Rekordwert bei warmen Außentemperaturen war eine Stadtfahrt mit einem (hochgerechneten) Verbrauchswert von nur 8,5 kWh.

Also alles prima? Nicht ganz. An CCS-Schnellladesäulen mussten wir auf größeren Touren mehr Zeit verbringen als heutzutage eigentlich nötig wäre. 45 Minuten von 10 auf 80 Prozent sind lang. Grund: Der Niro zieht maximal 80 kW, oft aber auch weniger. Das geht einfach besser, wie Kia am größeren Bruder EV6 mit erheblich besserer Schnellladefähigkeit längst demonstriert hat. Am Können liegt es also nicht, eher am Wollen. Oder an den Kosten? Günstig in der Anschaffung ist der Niro EV aber keineswegs. Den Titel "perfektes Elektroauto" können wir daher trotz aller Pluspunkte nicht vergeben. Schade.