"Ich vermisse einen General Manager für die Elektromobilität"

Portrait von Professor Stefan Bratzel im Interviewformat
Prof. Stefan Bratzel, Gründer und Direktor des Center of Automotive Management (CAM) © Center of Automotive Management [M]

Auto-Experte Prof. Stefan Bratzel über hohe Autopreise, die Probleme der deutschen Autohersteller, neue Konkurrenten auf dem Weltmarkt und die Zukunft der Mobilität.

Professor Stefan Bratzel analysiert seit fast 20 Jahren die weltweite Situation der Autoindustrie. Seine Expertise zur Verkehrswende findet nicht nur Gehör bei den Herstellern, er berät auch die deutsche Politik in verschiedenen Gremien, zum Beispiel der Nationalen Leitstelle Ladeinfrastruktur, die das Bundesverkehrs-Ministerium ins Leben gerufen hat.

ADAC Redaktion: Herr Bratzel, gestörte Lieferketten, Mangel an Halbleitern, Produktionsstopps in den Autofabriken, das verordnete Aus für den Verbrennungsmotor, Absatzflaute und eine drohende Rezession – wie steht es um die Auto-Industrie?

Prof. Stefan Bratzel: Die Situation ist nicht sehr vorteilhaft. Die instabile weltpolitische Lage kommt noch hinzu. Trotzdem haben die Automobilhersteller noch nie so viel verdient wie im letzten Jahr. Es gab Rekordgewinne trotz eines Rückgangs der Absatzzahlen.

Die Lieferzeiten für Neuwagen sind lang, die Preise enorm hoch – wird das Auto zum Luxusgut?

Luxusgut würde ich nicht sagen. Aber wir müssen uns drauf einstellen, dass Autofahren teurer werden wird. Ich glaube auch, dass es ein Bonus-Malus-Modell geben muss, um die klimapolitischen Herausforderungen zu stemmen.

Es wird es ein Bonus-Malus-Modell geben müssen, um die klimapolitischen Herausforderungen zu stemmen.

Prof. Stefan Bratzel

Was meinen Sie mit Bonus-Malus-System?

Wir glauben, dass der Malus für den Verbrennungsmotor stärker werden wird. Das kann höhere CO₂-Abgaben, aber auch andere Belastungen für den Verbrennungsmotor bedeuten. Die CO₂-Emission im Verkehr zu senken, wird aber nicht nur passieren, indem man alles auf Elektromobilität setzt. Man muss das Mobilitätssystem breiter denken.

Die Städte attraktiver zu machen bedeutet, dass für das private Automobil weniger Platz bleibt. Also werden die Parkgebühren steigen. Es könnte auch zu weiteren Zufahrtsbeschränkungen führen. Solche Bonus-Malus-Entwicklungen werden wir in den nächsten zehn Jahren sehen. Und der Malus kommt ein bisschen stärker beim Verbrenner.

Wird bei der Mobilität genug für den Klimaschutz getan?

Grundsätzlich ist es richtig, dass Fahrzeuge mit einem geringeren CO₂-Ausstoß preislich bevorrechtigt werden. Egal, wie man das macht, mit Förderbeträgen oder Steuererleichterungen. Wir werden die Verkehrs- und Energiewende aber nur hinbekommen, wenn wir auch die Photovoltaik in Verbindung mit Wallboxen, Smart Charging und mit dem bidirektionalen Laden fördern. Das zusammen müssen wir in den nächsten zehn Jahren hinbekommen. Da sind Riesenchancen drin. Übrigens auch Geschäftsmodelle für Automobilhersteller. Da sehe ich ein Defizit in der deutschen Politik, dass man das nicht bis zum Ende denkt.

Und beim Aufbau der Ladeinfrastruktur?

Was ich vermisse, ist einen General Manager für Elektromobilität. Wenn das Geld nicht richtig eingesetzt wird, wenn man sich nicht vernünftig um die Umsetzung bis zum Ende kümmert, dann hat man ein Problem.

Wie sieht die Ladeinfrastruktur denn idealerweise aus? Nehmen Sie die vielen AC-Ladesäulen in der Stadt, die unrentabel sind für die Betreiber und die auch eine Menge Ärger machen im Parkraum.

Ich rede seit Jahren von einem Ladeinfrastruktur-Chaos. AC-Säulen gehören nicht in den öffentlichen Straßenraum. Langsam laden kann man zu Hause oder am Arbeitsplatz. Im städtischen Bereich brauchen wir Schnellladeparks, sodass man, wenn man keine Garage mit Stromanschluss hat, da in einer Viertelstunde 200 oder 250 Kilometer nachladen kann. Zum Beispiel während man einkauft. Die Langsamlader blockieren ja eher das Laden, als dass sie eine Lösung sind im öffentlichen Straßenraum.

Die Langsamlader blockieren ja eher das Laden, als dass sie eine Lösung sind im öffentlichen Straßenraum.

Prof. Stefan Bratzel

Auf der Langstrecke hapert es oft an der Verlässlichkeit, daran, dass die Authentifizierung und das Bezahlen klappt. Und ich muss Sicherheit haben, dass da ein Steckplatz frei ist, wenn ich hinfahre. All das hätte man eigentlich vor langer Zeit von Tesla abschauen können, die das mit den Superchargern wunderbar gemacht haben.

Werden wir bis 2035, wenn der Verbrenner an sein Ende kommt, für alle Elektroautos eine ausreichende Ladeinfrastruktur haben?

Das wird auf jeden Fall eine Herkules-Herausforderung. Und schon jetzt müssen die Voraussetzungen geschaffen werden! Aber die Ladeinfrastruktur ist ja nur eine der großen Herausforderungen. Es geht auch um die Verfügbarkeit von Rohstoffen, die es braucht, um so viel Elektrofahrzeuge zu bauen. Elektromobilität ist kein Selbstläufer.

Welche Instanz soll das machen? Die Industrie? Der Verkehrsminister?

Die Politik muss den Prozess orchestrieren, und sie muss sich verantwortlich fühlen.

Tut sie das nicht?

Wir haben eine komplizierte Politik-Verflechtung mit Bund, Land und den Kommunen. Aber man muss Regelungen finden, das kompetent zu orchestrieren. Das Verkehrsministerium sollte die Rolle des Hauptakteurs annehmen. Ich glaube, mittlerweile weiß man, da ist einiges ungeschickt gewesen. Aber jetzt muss man das Thema wirklich angehen, weil sonst wird es nichts mit dem Ende des Verbrennungsmotors 2035. Mit der klimapolitischen Herausforderung haben wir ein Jahrhundertproblem. Das ist kein Spiel und kein Spaß.

Wie sieht die Lage der Autoindustrie aus, wenn Sie auf das internationale Geschäft schauen?

Die Autoindustrie hängt stark an globalen Märkten wie etwa China. Ich versuche schon seit Jahren den Finger in die Wunde zu legen. Man braucht zwar China als großen Wachstumsmarkt, aber die Abhängigkeit und Verwundbarkeit für die deutschen Hersteller ist hoch. Das ist eine sehr, sehr schwierige Gemengelage.

Ist die Situation bedrohlich?

Ich halte das mittel- und langfristig für bedrohlich. Noch-VW-Chef Herbert Diess hat angesichts der Abhängigkeit von China gesagt, Volkswagen müsse in den USA viel, viel stärker werden. Und wir dürfen nicht vergessen: Wenn die chinesische Regierung etwas will, dann wird man nie ein böses Wort dazu hören von VW. Ich halte das nicht für unkritisch, Stichwort Uiguren und so weiter. Das Thema kann schnell eskalieren.

Wie konkurrenzfähig sind die deutschen Hersteller?

Die deutsche Autoindustrie ist so schlecht nicht positioniert, aber sie wird noch mehr unter Druck geraten. Es kommen sehr finanzkräftige Player auf den Automobilmarkt, die vorher dort keine Rolle gespielt haben, Apple, Google, Alibaba. Und langsam versuchen die chinesischen Autohersteller, in Europa Fuß zu fassen.

Zum Beispiel Nio. Hat dieser relativ unbekannte Hersteller aus China wirklich eine Chance in Europa?

Absolut. Nio ist wirklich stark. Auch BYD ist stark. Beide haben die gesamte Wertschöpfungskette mit Batterien und Services im Blick. Und das ist ein großer Unterschied zum klassischen Verständnis deutscher Autobauer.

Herbert Diess, der den VW-Konzern wie keiner seiner Vorgänger in Richtung Zukunft umgekrempelt hat, ist seinen Posten los. Was hat er falsch gemacht, dass es ihn den Job gekostet hat?

Für die Absetzung von VW-Chef Diess gibt es nicht den einen Grund, es ist eine ganze Kette von Gründen, die dazu geführt haben, dass die Anteilseigner das Vertrauen in ihn für die weiteren Konzern-Aufgaben verloren haben. So war es sehr ungeschickt, wie er sich mit dem Betriebsrat von Volkswagen bei der Umstrukturierung und Personalplanung angelegt hat. Außerdem gibt es bei der konzernübergeifenden Software-Entwicklung Probleme. Und das eben angesprochene China-Geschäft läuft momentan eher schlecht. Für all das musste Herr Diess den Kopf hinhalten. Seine vorpreschende, oft kompromisslose Art hat ihn sicherlich auch viele Sympathien in den Chefetagen gekostet. Das rächt sich irgendwann.

Was wird sein Nachfolger, Porsche-Chef Oliver Blume, anders machen?

Oliver Blume ist bekannt dafür, die Belegschaft hinter sich versammeln zu können. An der konsequenten Strategie für Elektromobilität des Konzerns wird sich grundsätzlich nichts ändern. Vielleicht wird mit ihm etwas mehr in E-Fuels investiert werden.

Ist der Ansatz, neben der Elektromobilität auch E-Fuels weiterzuentwickeln, sinnvoll?

Sowohl die Brennstoffzelle als auch E-Fuels sehen wir momentan nicht im Pkw. E-Fuels sind zukünftig interessant, aber wir glauben, dass sie in Flugzeugen oder Schiffen sehr viel besser angewandt sind als im Pkw-Bereich. Wenn wir in 15 Jahren große Anlagen zur Produktion von E-Fuels haben, können wir uns das noch mal anschauen, ob das eine praktikable Lösung ist. Aber wir müssen jetzt etwas tun und können nicht warten, bis E-Fuels zu einem konkurrenzfähigen Preis da sind.

Tatsächlich werden zwischen 2035 und 2050 noch sehr, sehr viele Verbrennungsmotoren in der Welt herumfahren. Dafür könnten E-Fuels doch eine Lösung sein.

Das ist eine Thematik, die man nicht vergessen darf. Aber vielleicht muss man überlegen, ob man diese Verbrenner dann weniger fährt oder einen Ersatz für diese Fahrzeuge findet. Vielleicht schafft man es, wenigstens in Deutschland, die Flotte von heute fast 50 Millionen auf 35 Millionen zurückzuführen und die Fahrzeuge ein bisschen effizienter zu nutzen.

Glauben Sie, dass der Trennungsschmerz vom Selbst-Steuern hin zum autonomen Fahrzeug ein ähnlicher wird wie beim Abschied vom knatternden Verbrenner zum Elektroauto?

Ja, sehr ähnlich. 2050 werden wir gar nicht mehr groß selbst fahren. Wer selbst fahren will, macht das zum Spaß in seiner Freizeit, aber nicht auf dem täglichen Weg zur Arbeit.

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