Saurier trifft Space Shuttle: Der elektrische Pick-up Rivian R1T
Bigblock, Blattfedern und der Auspuff dick wie Kanalrohre: Kaum eine Autogattung ist so archaisch wie der Pick-Up-Truck. Jetzt hat Rivian den ersten elektrischen Lademeister in Serie gebracht – und lässt damit sogar Porschefahrer vor Neid erblassen. Daten, Infos, Preise.
5,50 Meter lang, zwei Meter breit
Maxi-Batteriepacks bis 180 kWh
In 3,3 Sekunden von 0 auf 100 km/h
Bis zu 1100 Nm Drehmoment
Keine Fahrzeuggattung ist in den USA so beliebt wie der Pick-up-Truck: Jeder dritte Neuwagen dort hat eine Pritsche. Für Elon Musk ist deshalb klar: "Wenn wir es ernst meinen mit dem Abschied vom Benzin, dann müssen wir ganz dringend über einen Pick-up nachdenken." Seine Antwort war der Cyber-Truck, doch der soll – so die jüngste Kunde aus Kalifornien – frühestens Anfang 2023 auf den Markt kommen.
Deshalb muss sich Musk jetzt die Show von einem anderen Start-up stehlen lassen. Denn während Tesla noch plant, hat Rivian bereits mit der Produktion begonnen und schickt seit ein paar Monaten den R1T ins Rennen. Als erster elektrischer Pick-up soll er das größte und wichtigste Segment des US-Markts in die Zukunft führen und zugleich die Elektrifizierung von der Elite in die Breite der Gesellschaft tragen.
Rivian R1T: Cool wie das erste iPhone
Zwar wirkt der R1T nicht ganz so weit aus der Zukunft geholt wie der Cybertruck. Doch gemessen an den konventionellen Konkurrenten tritt der Newcomer auf, als hätten sie in Hollywood ein paar Szenen aus Star Trek mit Jurassic Park durcheinandergebracht – so cool und clean schwimmt der Rivian durch den Verkehr: Wo Ford & Co. auf Chrom und Flammen setzen und den Dicken machen wie Arnold Schwarzenegger in seinen besten Jahren, strahlt der Rivian eine Coolness aus wie die das erste iPhone, ist rank und schlank und leistet sich als einziges Erkennungsmerkmal unverwechselbare LED-Scheinwerfer.
Einen Grill gibt es dagegen gar nicht mehr, keine Trittleisten und erst recht keine Rammschutzbügel oder wuchtigen Planken an den Flanken. Sogar ein Jeep Compass sieht dagegen verwegen aus.
Der elektrische Pick-up fürs Abenteuer
Der Auftritt ist völlig unterschiedlich, aber der Anspruch ist der gleiche: Der Rivian will Arbeitstier und vor allem Abenteurer sein, der sich für nichts und niemanden zu schade ist. Nicht umsonst bewerben die Amerikaner den Pick-up als erstes elektrisches Expeditions-Mobil und nicht ohne Grund gibt es fast ausschließlich Fotos von Geländespielen mit Zelt auf der Pritsche oder einer Outdoor-Küche im so genannten Gear Tunnel – dem praktischen Schubfach zwischen der Kabine und dem Pritschenboden, wo andere Pick-ups Kardanwellen, Blattfedern oder den Tank haben.
Auch innen lebt der Rivian-Fahrer in seiner ganz eigenen Welt und sitzt in einem coolen Studio hinter zwei Bildschirmen statt in einem Maschinenraum voller Uhren, Schaltern und Tasten – selbst wenn er dafür sogar Sitze und Spiegel am Touchscreen einstellen muss. Dazu gibt’s Platz in Hülle und Fülle und fürs Gepäck neben der Pritsche den obligatorischen Frunk im Bug. Nur dass der hier größer ist als der Kofferraum manch konventioneller Kombis.
Der Rivian R1T wendet auf der Stelle
Damit der R1T in der Wildnis mindestens so weit kommt wie die Konkurrenten aus der alten Welt, fährt er auf Wunsch natürlich auf allen Vieren, hat gleich vier unterschiedliche Offroad-Programme und eine Luftfederung, mit der ihn der Fahrer auch über große Hindernisse lupfen kann. Und statt ihn an Engstellen mühsam zu rangieren, kann man den Rivian mit seinen vier angetriebenen Rädern auf losem Grund auch wie einen Panzer auf der Stelle wenden.
Selbst wenn der Fahrer sich das mit Rücksicht auf die Reifen lieber verkneift, gehört zumindest das Knirschen der Kardanwelle bei engen Kehren im Elektroauto der Vergangenheit an. Wo die Trucks aus der vermeintlichen Steinzeit bisweilen ein bisschen sperrig sind und nur widerwillig ums Eck gehen, ist das Space Shuttle unter den Pick-ups einem geschmeidigen Toyota RAV-4 näher als einem archaischen Tundra R1.
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Rivian R1T: Leistung wie ein Sportwagen
Die Technik ist auf die Pampa zugeschnitten, doch die Performance erinnert eher an einen Super-Sportwagen: 3,3 Sekunden reichen im besten Fall, um den Koloss mit einem Kick-down auf Tempo 100 zu katapultieren und auch noch den letzten Tropfen Kaffee aus dem Becher über dem veganen Leder des Innenraums zu verteilen. Und das Ganze gelingt so mühelos und angesichts der Stille zugleich so unerwartet und unspektakulär, dass man sich jedes Mal wieder selbst erschreckt.
Und wer sich ein bisschen zurücknimmt oder die Fahrprogramme entsprechend wählt, der schwimmt so entspannt durch die Rushhour wie in einer großen Limousine – nur eben eine halbe Etage höher und mit einem Gefühl von Geborgenheit, wie es nur ein Hochsitz von 5,50 Metern Länge und mehr als zwei Metern Breite bieten kann.
All das erkauft sich Rivian freilich mit einem technischen Gigantismus, der gut zu den Dinosauriern passt, mit denen Kritiker den Pick-up gerne vergleichen. Wo andere E-Auto-Hersteller einen Motor pro Achse einsetzen, montiert Rivian derer zwei und bietet so bis zu 840 PS. Und das Drehmoment gipfelt im besten Fall erst weit jenseits von 1100 Nm. Nur zum Stromsparen kann man die Vorderachse abkoppeln und später gibt’s ein Basismodell mit nur zwei Motoren, aber trotzdem mit Allradantrieb und noch immer mehr als 600 PS.
Batteriepack mit bis zu 180 kWh
Auch bei den Akkus wird geklotzt und nicht gekleckert. Denn schon die wohl erst 2024 lieferbare Basisversion fährt mit einer Batterie, die mit 105 kWh fast so groß ist wie der des EQS, immerhin der aktuell größte im Europa. Der Large Pack, mit dem jetzt der Verkauf startet, hat sogar 135 kWh und kommt damit im offiziellen EPA-Rating 505 Kilometer weit. Und wer weit in die Wildnis will oder auf dem ganz platten Land wohnt, dem liefert Rivian bald auch einen "Max Pack" mit irrwitzigen 180 kWh für mehr als 600 Kilometer. Kein Wunder, dass der R1T in keiner Version nennenswert unter drei Tonnen wiegt. Geladen wird dabei nach aktueller Nachrichtenlage mit bis zu 200 kW und Rivian verspricht in 20 Minuten bis zu 220 Kilometer neue Reichweite.
Gemessen an dem Aufwand sind die Preise fast schon moderat. Denn das Basismodell kostet 67.500 US-Dollar, der Large Pack mit vier Motoren startet bei 85.000 und das Topmodell steht mit 95.000 US-Dollar auf der Website.
Zwar hat Rivian schon für den R1T bereits angeblich über 70.000 Bestellungen in den Büchern. Doch die Amerikaner wollen mehr. Viel mehr: In Georgia planen sie noch für dieses Jahr den Bau eines zweiten Werks, in dem dann ab 2024 zu den 150.000 Autos aus Illinois noch einmal bis zu 400.000 Autos pro Jahr gefertigt werden sollen.
Dabei hat Rivian nicht allein den Heimatmarkt im Sinn. Sondern jetzt, wo die Pick-ups das Stigma der Saurier verlieren, werden die Pritschenwagen plötzlich auch in anderen Ländern salonfähig und viele verkappte Cowboys können ihre Leidenschaft endlich ausleben. Offizielle Ankündigungen gibt es bislang zwar noch nicht. Doch am belgischen Flughafen Liege wurde bereits der erste R1T aus einem Cargoflieger geladen.
Text: Thomas Geiger