Euro-NCAP-Tests: Wie gut sind die aktuellen Notbremssysteme?
Notbremsassistenten können Leben retten. Doch funktionieren sie auch immer perfekt? Der ADAC hat 42 neue Testergebnisse von Euro NCAP ausgewertet. Und klärt die Frage: Was leisten Notbremssysteme bei Glätte?
Bei Glätte reagieren Systeme zu spät
Zusatztest: Ausweichunterstützung im VW ID.4
So werden die Systeme getestet
Dass sich die Zahl der Verkehrstoten in Europa seit dem Jahr 2000 um mehr als die Hälfte reduziert hat, ist auch ein Erfolg des europäischen Sicherheitskonsortiums Euro NCAP, das der ADAC seit vielen Jahren mit Tests und Expertise unterstützt. Geht es nach der EU, soll die Zahl bis 2030 sogar noch einmal halbiert werden. Und spätestens 2050 soll es gar keine Verkehrstoten mehr geben in Europa: "Vision Zero" heißt die ambitionierte Devise.
Aktive Systeme verhindern Unfälle
Dafür hat Euro NCAP die Anforderungen an die Sicherheitstechnik im Auto stetig verschärft. Waren die Tests in den 90er-Jahren noch auf den Insassenschutz begrenzt (Sicherheitszelle, Gurte, Airbags), werden inzwischen etliche aktive Sicherheitssysteme gefordert und getestet.
Denn aktive Systeme können – wenn sie perfekt funktionieren – Kollisionen zwischen Fahrzeugen (Car-to-Car) sowie ungeschützten Verkehrsteilnehmern wie Fahrradfahrern und Fußgängern verhindern oder zumindest die Geschwindigkeit und damit die Härte des Aufpralls bzw. die Schwere möglicher Verletzungen reduzieren.
Das Vorhandensein etwa eines City-Notbremsassistenten (ab Mitte 2024 für alle Serienneufahrzeuge Pflicht) wird von Euro NCAP schon heute als technisch ausgereifte Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, eine Bewertung erfolgt nicht mehr. Allenfalls gibt es Punktabzug im Insassenschutz, falls er nicht an Bord ist: siehe Renault Zoe des Testjahrgangs 2021 – der hatte ihn nicht.
Euro NCAP: ADAC Auswertung
Doch die Systeme werden immer besser. Und klar ist: Moderne Notbremsassistenten AEBS (Autonomous Emergency Braking System) spielen eine ganz zentrale Rolle für die Sicherheit im gesamten Straßenverkehr. Weil die AEBS-Bewertung im Euro-NCAP-Ergebnis bei der Vielzahl der Testkriterien aber etwas untergeht, hat der ADAC eine Sonderauswertung der Notbremsfunktion für Fahrzeuge, Fußgänger und Radfahrer erstellt – losgelöst von den restlichen Kriterien zur Vergabe der Sterne.
Die Gesamtergebnis-Rangliste dieser Sonderauswertung der Euro-NCAP-Sicherheitstests richtet sich danach, wie gut ein Fahrzeug die Anforderungen für Notbremsassistenten erfüllt, ausgedrückt in Prozent. Rechts daneben finden Sie die Euro-NCAP-Bewertung der Gesamtsicherheit des Fahrzeugs, also aktive wie passive Sicherheit insgesamt, ausgedrückt in Sternen.
Um das Potenzial zur Reduzierung der Zahl von Getöteten und Schwerverletzten im Straßenverkehr in die Sonderauswertung einfließen zu lassen, wurde bei den Erfüllungsgraden im Detail eine Gewichtung vorgenommen:
Notbremsfunktion Fahrzeug zu Fahrzeug (Car-to-Car): 40 Prozent
Notbremsfunktion auf Fußgänger bei Tag und bei Nacht: 30 Prozent
Notbremsfunktion auf Radfahrer: 30 Prozent
Bestenliste: 42 Modelle im Notbremstest
Die Bestenliste beweist: Ein Fahrzeug mit einer 4-Sterne-Sicherheit kann ein besseres Notbremssystem an Bord haben als ein Fahrzeug mit der Höchstwertung von fünf Sternen. Denn die Bewertung des Notbremsassistenten ist jeweils nur ein Teil der erzielbaren Punkte in den Kriterien Insassenschutz, Fußgängerschutz und Sicherheitsassistenten, geht also im Gesamtergebnis unter. Beispiele: Fiat 500e und Hyundai Bayon.
Testsieger: BMW iX, Nissan Qashqai, Subaru Outback
Das Auto mit dem besten Notbremssystem ist der BMW iX, ein luxuriöser SUV aus der Riege der neuesten Elektroautos. Der iX kostet mindestens 77.300 Euro, doch auf Rang zwei im Testdurchlauf 2020/2021 folgt der Nissan Qashqai, der schon ab etwa 27.000 Euro erhältlich ist. Allein dieses Beispiel zeigt, dass Sicherheit nicht unbedingt extrateuer sein muss.
Auf dem hervorragenden dritten Platz des Notbremsrankings landet der Subaru Outback. Der Allradkombi aus Japan (ab rund 41.000 Euro), der für seine Robustheit und seine Wintertauglichkeit berühmt ist, lässt den wesentlich teureren BMW iX auch in puncto Crash-Gesamtsicherheit zehn Plätze hinter sich. Die Details dazu lesen Sie in der Euro-NCAP-Gesamtauswertung.
Auch neue Marken können punkten
Bei den Top-10-Platzierten liegen die erreichten Erfüllungsgrade zwischen knapp 80 bis über 90 Prozent. Das ist ein gutes bis sehr gutes Niveau. Aber es gibt in der Gesamtliste auch Ausreißer – sowohl nach oben wie nach unten.
So schafft es der Polestar 2 tatsächlich, die 100-Prozent-Marke in der Bewertung "Car-to-Car" zu erreichen. Besser geht's nicht. Beim Fußgängerschutz dagegen gelingt es dem Polestar 2 nur zu 68 Prozent, die Anforderungen von Euro NCAP zu erfüllen. Was vor allem daran liegt, dass er für Fußgänger hinter dem Auto beim Zurücksetzen nicht automatisch abbremst. Aber auch nachts reagiert der Polestar 2 auf Fußgänger bei höheren Geschwindigkeiten nicht fehlerfrei.
Auf dem 17. Platz und damit keinesfalls schlecht schneidet ein Fahrzeug eines ambitionierten chinesischen Herstellers ab: der Nio ES8. Ein sehr ordentliches Ergebnis, obwohl der Nio das erste Fahrzeug in diesem Ranking ist, das in allen drei Testdisziplinen weniger als 80 Prozent Erfüllungsgrad erzielt. Doch damit ist der Nio immer noch besser als der VW ID.3 und der Audi A3 – wenn auch nur marginal. Der Nio ES8 wird in Europa bisher erst in Norwegen verkauft, in Deutschland noch nicht.
Gleiche Systeme, große Unterschiede
Schon ein bisschen abgeschlagen auf Platz 29 liegt der Audi Q4 e-tron: Sein System hat Probleme, einen Fahrradfahrer rechtzeitig zu erkennen. In diesem Punkt fällt der Erfüllungsgrad mit 50 Prozent eher mager aus. Sein Technikpendant aus dem VW-Konzern, der VW ID.4, schafft hier immerhin 66 Prozent. Der Skoda Enyaq aus dem gleichen Baukasten erreicht 61 Prozent. Die Unterschiede lassen sich möglicherweise aufgrund der jeweiligen Einbaulage von Kameras und Radarsensoren erklären (höher, tiefer oder nicht mittenzentriert).
Ganz am Ende des Feldes befinden sich Fahrzeuge, deren Notbremsassistenten technisch gar nicht dafür ausgelegt sind, wegen Fußgängern oder Radfahrern zu bremsen. In der Tabelle zu erkennen sind sie an der Null-Prozent-Wertung. Diese Modelle sollten von den betreffenden Herstellern schnellstmöglich nachgerüstet werden.
Jedes Notbremssystem ist besser als gar keins
Den absolut schlechtesten Systemwert weist mit 38 Prozent beim Fußgängerschutz der Hyundai i10 (Baujahr 2020) auf – ein ziemlich enttäuschender Wert. Trotzdem: Jedes System ist besser als gar keins. Und wahrscheinlich wird Hyundai das Ergebnis zum Anlass nehmen, die Technik im Detail nachzubessern. Denn öffentlicher Druck von Verbraucherschutzorganisationen – das zeigt die Geschichte von Euro NCAP eindeutig – hat fast immer geholfen, ein kritisiertes Produkt besser zu machen. Oder es ist vom Markt verschwunden.
Fazit der Testergebnisse
Die ADAC Sonderauswertung der Euro-NCAP-Sicherheitstests der Jahrgänge 2020/2021 zeigt, dass gut funktionierende Notbremsassistenten keine exklusive Domäne der hochpreisigen Fahrzeuge sein muss, sondern auch Autos der unteren Mittelklasse und günstige Kleinwagen gut abschneiden können. Gute Systeme verhindern nicht nur drohende Kollisionen zwischen Fahrzeugen in unterschiedlichen Situationen, sie bremsen auch wenn Fußgänger oder Radfahrer die Straße queren oder sich dem Fahrzeug von hinten nähern. Und sie reagieren zunehmend besser bei schlechten Lichtverhältnissen.
Wichtig zu beachten: Assistenzsysteme sind als Hilfestellung zu betrachten bei Unachtsamkeit des Fahrers oder Überforderung durch die Verkehrssituation. Es gibt keine Garantie und keinen Rechtsanspruch darauf, dass der Assistent einen Unfall vermeidet. Außerdem sollte man Notbremsassistenten nicht nur so zum Spaß ausprobieren. Er reagiert oft erst dann, wenn der Mensch einen Unfall nicht mehr vermeiden könnte (Verringerung Aufprallenergie) und klassifiziert Hindernisse, bevor er eingreift – eine Leiter oder einen Stuhl erkennt er nicht.
Zusatztests: Bremsen bei Glätte
Um die Frage zu klären, was passiert, wenn der Bremsassistent bei winterlicher Glätte eingreifen muss, hat der ADAC Zusatztests durchgeführt, beispielhaft mit einem Audi A6. Ergebnis: Während es der A6 bei normalen Temperaturen und auf trockener Straße schafft, den Aufprall bis zur maximalen Testgeschwindigkeit von 50 km/h komplett zu vermeiden, sind die Grenzen des Systems bei Glätte schnell erreicht.
Bei minus ein Grad Celsius und leicht rutschiger Fahrbahn schafft es der Audi A6 mit einem Tempo von 25 km/h gerade noch, die Kollision mit dem stehenden Fahrzeug zu vermeiden – bei einem Tempo von 45 km/h aber nicht mehr. Dabei hätte ein Sekundenbruchteile früheres Bremsmanöver ausgereicht, auch diesen Aufprall zu vermeiden.
Für eine optimale Sicherheit im Straßenverkehr wäre es daher geboten, die Umweltparameter Temperatur und Nässe in die Algorithmen einzubeziehen. Die Sensorik des vorgeschriebenen ESP könnte überdies zur Reibwertschätzung herangezogen werden. Auch die Überwachung der Fahreraufmerksamkeit (z.B. Blickrichtung) sollte einen Systemeingriff erfolgreich beeinflussen.
Ausweichassistent: Sinnvolle Ergänzung
Neben den Einschränkungen bei Glätte haben Notbremsassistenten auch auf trockener Straße ein Problem: Vor allem bei höheren Geschwindigkeiten können sie nicht jeden Unfall vermeiden. Hintergrund: Notbremsassistenten sind so programmiert, dass die automatische Bremsung möglichst spät ausgelöst wird – und zwar, um Falschauslösungen zu vermeiden. Denn die erschrecken nicht nur den Fahrer, sie können auch für den nachfolgenden Verkehr gefährlich werden.
Die Programmierung auf Spätauslösung führt dazu, dass Notbremsassistenten nicht mehr jede Kollision vermeiden. Vor allem bei höheren Geschwindigkeiten. Dabei könnte in einer solchen Situation eine knappe Vorbeifahrt am Hindernis möglich sein. Dazu müsste das Auto allerdings am Hindernis vorbeilenken, wenn es möglich ist.
Eine typische Situation wäre ein Rechtsabbieger, der beim Abbiegen plötzlich stehen bleibt und dessen Heck in die Straße hineinragt. Da der Vordermann nach rechts versetzt steht, könnte eine Lenkbewegung nach links den Unfall aber noch verhindern.
Vorausgesetzt, da ist Platz und es kommt kein Gegenverkehr.
Test: Ausweichassistent im VW ID.4
Ob das mit automatisierter Technik funktioniert, hat der ADAC im Rahmen der Euro-NCAP-Tests erstmals beim VW ID.4 ausprobiert. Das System im VW ID.4 heißt "Ausweichunterstützung" und ist Bestandteil des Notbremsassistenten (Front-Assist). Es arbeitet im Geschwindigkeitsbereich von 30 km/h bis 150 km/h und wird dann aktiviert, wenn der Fahrer nach der Akutwarnung lenkt, um dem Hindernis auszuweichen. Es bremst dann einzelne Räder ab und unterstützt mit korrigierendem Lenkeingriff.
Als Testszenario beim ADAC dient die Fahrt auf eine nach rechts versetzte, stehende Fahrzeugattrappe bei 45 km/h. Im ersten Test ist die Notbremsfunktion – also auch der Ausweichassistent – deaktiviert. Kurz vor der Kollision wird eingelenkt, aber nicht genug: So als ob der Fahrer die Lenkbewegung nicht beherzt genug ausführt, was in der Realität tatsächlich häufig der Fall ist. Im Ergebnis wird das Heck der Fahrzeugattrappe zwar nicht mehr komplett getroffen, aber immer noch mit einer Überdeckung von etwa 15 Prozent der Fahrzeugbreite.
Im zweiten und entscheidenden Versuch reproduziert die Lenkmaschine dieselbe Bewegung. Das nun aktivierte System unterstützt das Lenkmanöver und verhindert die Kollision, indem es um das Hindernis herumlenkt. Danach stellt sich der Lenkwinkel zurück auf Geradeaus und das Fahrzeug rollt aus.
Fazit: Ausweichassistenten sind eine sinnvolle Ergänzung zum Notbremsassistenten, indem sie den Fahrer dabei unterstützen, um das Hindernis herumzulenken und die Kollision zu vermeiden. Ersetzen können sie einen Notbremsassistenten jedoch nicht, weshalb sie immer nur ein Zusatz zu den Basis-Sicherheitsassistenten sein sollten.
Die Euro-NCAP-Testkriterien
Die Sensortechnologie der Notbremsassistenten ist so weit fortgeschritten, dass heute ein Sensorsatz für alle Geschwindigkeiten verwendet werden kann und die Systeme über den gesamten Geschwindigkeitsbereich hinweg funktionieren. Dementsprechend honoriert der Euro NCAP seit 2020 die Funktionalität über einen weiten Geschwindigkeitsbereich.
Der Heckaufprall zwischen Fahrzeugen gehört zu den häufigsten Unfallarten auf europäischen Straßen. Drei Szenarien werden daher für ein Fahrzeug geprüft, das sich dem Heck eines anderen Fahrzeugs nähert:
· bei angehaltenem/stehendem Zielfahrzeug
· bei einem Zielfahrzeug, das langsamer fährt als das Testfahrzeug
· in unterschiedlichen Abständen, wenn das Zielfahrzeug sanft und hart abbremst
Seit 2020 wird außerdem ein Szenario bewertet, wo das Testfahrzeug links abbiegt und den Weg eines entgegenkommenden Fahrzeugs überkreuzt.
Der maximale Erfüllungsgrad wird nur verliehen, wenn das System eine Kollision komplett vermeidet. Der Erfüllungsgrad reduziert sich je nachdem, in welchem Maß die Aufprallgeschwindigkeit und damit das Verletzungsrisiko reduziert werden.
Ein Testszenario ist, dass Fußgänger den Weg des Fahrzeugs kreuzen: ein Erwachsener, der schnell gehend von der Fahrerseite her das Fahrzeug kreuzt, ein Erwachsener, der von der Beifahrerseite kommt, und ein Kind, das von der Beifahrerseite her zwischen parkenden Fahrzeugen auf die Straße rennt.
Das zweite Szenario wird in Längsrichtung mit mehreren Tests durchgeführt: Bei einem befindet sich der Fußgänger auf der Mittellinie des Fahrzeugs, beim anderen am Straßenrand. Hier reicht eine rechtzeitige Warnung. Das Längsrichtungsszenario und eines der Szenarien mit kreuzendem Fußgänger werden bei Nacht wiederholt, denn viele Unfälle mit Fußgängern ereignen sich unter diesen Bedingungen: bei Dämmerung oder Dunkelheit.
Des Weiteren wird seit 2020 getestet, ob im Fahrzeug Systeme verbaut sind, die hinter dem Fahrzeug stehende Personen oder solche, die sich von der Seite dem Fahrzeugheck nähern, erkennen und das Fahrzeug automatisch stoppen.
Auch wenn das autonome Fußgänger-Notbremssystem einen Zusammenstoß nicht vollständig vermeiden kann: Euro NCAP honoriert, wenn die Fußgänger-Kollisionstests zeigen, dass das Fahrzeug mit einem geeigneten Frontdesign das Verletzungsausmaß reduziert. Bei höheren Geschwindigkeiten kann die volle Punktzahl auch durch Geschwindigkeitsabbau erreicht werden.
Für die Erkennung von Radfahrern verwendet Euro NCAP zwei Testszenarien: In einem kreuzt der Radfahrer den Weg des Fahrzeugs, im anderen bewegt sich der Radfahrer in dieselbe Richtung wie das Fahrzeug. Beide Szenarien sind typische Situationen, die zu Unfällen mit Todesfolge führen. Die Erkennung eines Radfahrers ist im Vergleich zur Fußgängererkennung eine technische Herausforderung, da er mit höheren Geschwindigkeiten unterwegs ist.
Seit 2020 muss der Notbremsassistent auch auf Radfahrer reagieren, die zwischen zwei Fahrzeugen herausschnellen. Der querende Radfahrer ist zudem schneller unterwegs. Darüber hinaus muss der Notbremsassistent von 2020 an die Kollisionsgefahr mit dem Gegenverkehr beim Linksabbiegen absichern können.
Fachliche Beratung: Burkhard Böttcher/ADAC Technik Zentrum Landsberg