ADAC Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand: "Mobilität muss möglich bleiben"

Seit 2019 ist Gerhard Hillebrand Verkehrspräsident des ADAC
Seit 2019 ist Gerhard Hillebrand Verkehrspräsident des ADAC© ADAC/Peter Neusser

Flächenkonkurrenz, Konflikte zwischen verschiedenen Verkehrsarten, Tempo 30 und autonomes Fahren werden derzeit intensiv diskutiert. Ein Interview mit ADAC Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand über aktuelle Fragen rund um Mobilität und Verkehr.

ADAC Redaktion: Die Flächenkonkurrenz in den Städten nimmt weiter zu, z.B. durch
E-Scooter, mehr Radfahrer, Pop-up-Radwege, Gastgärten auf ehemaligen Autoparkflächen und den Ausbau von Busspuren. Wie können Konflikte und Druck begrenzt oder abgebaut werden?

Ein Schanigarten in München im Sommer
Über die neuen Gastgärten freuen sich nicht alle Autofahrer© mauritius images/SZ Photo Creative

Gerhard Hillebrand: Viele Menschen wünschen sich lebenswertere Städte und mehr Nachhaltigkeit im Verkehr. Wenn es ans Eingemachte geht, wenn etwa Flächen umverteilt oder Parkgebühren erhöht werden sollen, ist es mit der Einigkeit oftmals vorbei. Wir brauchen daher kein Ausspielen der Verkehrsträger gegeneinander, sondern vor allem einen intensiven Dialog, der darauf abzielt, eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für den Mobilitätswandel und die dafür erforderlichen Maßnahmen zu erreichen.

Solche Maßnahmen können langfristig nur dann erfolgreich sein, wenn sie Teil einer integrierten Strategie sind und die Stärken einzelner Verkehrsarten optimal zur Geltung bringen. Dabei muss Mobilität möglich bleiben. Ein guter Ausgleich verbindet die Ansprüche an Nachhaltigkeit mit funktionierender Mobilität.

Im ÖPNV sind kostenlose Angebote, 365-Euro-Tickets und die Vereinfachung von Tarifmodellen in der Diskussion. Wie lässt sich Ihrer Meinung nach der ÖPNV attraktiver machen?

Öffentlicher Nahverker mit Bus und Tram in Essen
Für die Mobilität in der Stadt sind Busse und Bahnen unverzichtbar© imago images/Gottfried Czepluch

Der ÖPNV hat im Zuge der Corona-Krise viele Fahrgäste und damit Einnahmen verloren. Kostenlose Angebote sind aktuell also unrealistisch, denn es geht auch darum, den ÖPNV finanziell wieder auf eigene Beine zu stellen. Trotzdem müssen die Tarife an die Ansprüche der Menschen angepasst werden. Mit Blick auf die Veränderungen in der Arbeitswelt nach der Pandemie sollten insbesondere die Abo-Tarifmodelle verbessert werden.

Gerade Arbeitnehmer, die dank Homeoffice nicht täglich ins Büro fahren, benötigen neue digitale Tarife, sodass sie flexibel und kostengünstig den ÖPNV nutzen können und nicht auf teure Einzeltickets angewiesen sind.

Häufig gibt es Konflikte zwischen Auto- und Radfahrenden. Was können beide Seiten dafür tun, besser miteinander auszukommen?

Hier werben wir für mehr Respekt und Verständnis der Verkehrsteilnehmer untereinander. Das gilt übrigens auch für Radfahrer oder Autofahrer untereinander. Wir brauchen mehr wechselseitige Akzeptanz für die Mobilitätsbedürfnisse, aber auch Fehler der anderen. Ein großer Schritt wäre bereits getan, wenn alle Verkehrsteilnehmer die zentralen Verkehrsregeln kennen würden und einhielten.

In den Niederlanden und in einigen deutschen Städten wie Münster und Freiburg hat das Fahrrad einen sehr hohen Anteil am Verkehrsaufkommen. Wie lässt sich in Deutschland Radfahren attraktiver machen?

Radfahrer in Amsterdam
In Amsterdam hat der Radverkehr einen Anteil von 38 Prozent am Gesamtaufkommen© Shutterstock/S-F

Münster und Freiburg zählen seit vielen Jahren zu den Fahrradhochburgen in Deutschland. Dies zeigt, dass Radverkehrsförderung einen langen Atem und Kontinuität benötigt. Mit Sofortaktionen oder punktuellen Maßnahmen ist es nicht getan. Städte mit geringem Radverkehrsanteil müssen ihre Radverkehrsinfrastruktur systematisch weiterentwickeln. Das Hauptaugenmerk sollte dabei auf der Entwicklung durchgängiger Radverkehrsnetze liegen, die ein sicheres, komfortables und direktes Vorankommen ermöglichen.

  • Weitere Informationen, wie in Deutschland Radwege besser werden sollen, finden Sie hier.

Die Diskussion um die Einführung von Tempo 30 als städtische Regelgeschwindigkeit nimmt an Fahrt auf, nachdem Anfang Juli acht deutsche Großstädte eine Initiative zur Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen zur Durchführung von Pilotprojekten gestartet haben. Wie steht der ADAC dazu?

Zone 30 Schild in Paris
Seit August 2021 gilt in fast ganz Paris Tempo 30© imago images/PanoramiC

Seit gut 20 Jahren haben die Kommunen in Deutschland die Möglichkeit, großflächig Tempo-30-Zonen anzuordnen. Davon haben viele Städte reichlich Gebrauch gemacht. Auf bis zu 85 Prozent des städtischen Straßennetzes gilt schon heute Tempo 30. Dies leistet einen Beitrag zur Wohn- und Lebensqualität der Anwohner und wird von den Autofahrern auch weitestgehend beachtet und akzeptiert.

Auf den Hauptstraßen hat sich Tempo 50 bewährt. Überall dort, wo die Verkehrssicherheit es erfordert, wie zum Beispiel vor Schulen, Kindergärten oder Seniorenheimen, kann heute schon Tempo 30 auch auf Hauptverkehrsstraßen angeordnet werden. Hingegen würde Tempo 30 auf allen Abschnitten der Hauptverkehrsstraßen Verkehrsverlagerungen durch Wohngebiete fördern.

Zudem müssten die Kapazitäten im öffentlichen Busverkehr erheblich ausgeweitet werden, da mit 30 km/h die Umlaufzeiten im Taktverkehr deutlich steigen. In deutschen Großstädten flächendeckend Tempo 30 einzuführen ist aus Sicht des ADAC daher nicht sinnvoll.

Sharing-Angebote werden immer beliebter und sollen die Verkehrssituation in den Städten entspannen. Wo liegen die Grenzen dieses Modells?

Car sharing in Berlin
In Metropolen wie Berlin konzentriert sich Carsharing auf die Innenstädte© ADAC/Nora Bibel

Die Grenzen liegen darin, dass die Angebote oft nur in den größeren Städten und dort zumeist nur in den Zentren verfügbar sind. Außerdem sind die verkehrlichen Effekte gering, weil die Zahl der Fahrzeuge und der Nutzungen noch klein ist. Hinzu kommt, dass Sharing-Angebote häufig in Zeiten in Anspruch genommen werden, in denen ohnehin weniger Verkehr ist. Zur Entspannung der Stausituation tragen sie deshalb so lange nicht bei, wie sie nicht auch bis in die Außenbezirke und in das unmittelbare Umland der Städte ausgedehnt werden.

Zum autonomen Fahren: Damit beschäftigen sich Fahrzeughersteller, Kommunen, Datenschützer. Welche Chancen und welche Risiken bietet es für die Mobilität in der Stadt?

Autonome Fahrzeuge können langfristig die Betriebskosten für Mobilitätsdienstleistungen senken und dadurch neue, attraktive Angebote ermöglichen. Mit autonomen Fahrzeugen kann flexibler auf zeitlich und räumlich schwankende Nachfrage reagiert werden. Vorstellbar wäre eine Verdichtung des Angebots in Schwachlastzeiten (z.B. nachts) oder in den Randzonen der Stadt.

Sowohl autonome Pkw als auch Kleinbusse werden derzeit getestet. Ist autonomes Fahren eher eine Chance für den öffentlichen oder für den Individualverkehr?

Ein autonomer bus fährt in Bad Birnbach auf der Strasse
In Bad Birnbach ist schon die zweite Generation autonomer Busse unterwegs© Dominik Schmidhuber

Um die Sicherheit autonomer Fahrzeuge sicherzustellen, bestehen hohe Anforderungen an die technische Zuverlässigkeit und die Überwachung des Betriebs durch eine geeignete Leitstelle. Vorstellbar sind autonome Taxiflotten oder Shuttle- und Linienverkehre, die von gewerblichen Betreibern angeboten werden. Im Privat-Pkw könnten sich automatisierte Fahrfunktionen für bestimmte Einsatzszenarien (z.B. Staupilot, Autobahnpilot) durchsetzen.

  • Auf dieser Überblicksseite sind Artikel zum autonomen Fahren unter technischen und rechtlichen Aspekten zusammengestellt.

In der Zentrale und den Regionalclubs des ADAC beschäftigen sich Fachleute mit vielen Aspekten von Verkehr und Mobilität. Gibt es Informationen des ADAC für Kommunen, die sie bei der Verkehrsplanung unterstützen?

Der ADAC bietet den Kommunen auf seiner Homepage vielfältige Informationen zum Stadtverkehr in Form von Beiträgen, Standpunkten, Fachinformationen und Broschüren an. Darüber hinaus veranstaltet die Zentrale zusammen mit den Regionalclubs im Rahmen ihrer Expertenreihe, die hauptsächlich an die kommunalen Verkehrsplaner gerichtet ist, jährlich mehrere Fachveranstaltungen.

Nicht zuletzt gibt es für die Kommunen zweimal jährlich den ADAC Expertendialog, einen fachlichen Infodienst zu aktuellen Themen und Trends in der städtischen Mobilität. Der ADAC bietet Kommunen und Unternehmen kostenlos die Plattform www.pendlernetz.de*, über die sich einfach Fahrgemeinschaften bilden lassen, die den Verkehr entlasten.

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Redaktion: Ronald Winkler und Helmuth Meyer