Das Risiko rollt weiter: Kleintransporter ohne Assistenzsysteme!

Ein Transporter fährt auf einen Fahrradfahrerdummy zu
Ein automatischer Notbremsassistent hätte diesen Unfall wohl verhindert© ADAC/Uwe Rattay

Der Skandal hört nicht auf: Noch immer bieten die Fahrzeughersteller ihre Lieferwagen der "Sprinter-Klasse" in Deutschland serienmäßig ohne lebensrettende Assistenzsysteme an – ein lebensbedrohliches Risiko für alle Verkehrsteilnehmer.

  • Gut gemeint: Euro NCAP testet 18 Kleintransporter in Vollausstattung

  • Gefährliche Realität: Hersteller sparen in Deutschland Sicherheit ein

  • ADAC Auswertung: Kein einziger Kleintransporter ist empfehlenswert

Der Markt für Kleintransporter wächst

Der Onlinehandel boomt – und mit ihm der innerstädtische Lieferverkehr. Handwerker und frisch angeheuerte Fahrer hetzen mit ihren bis zu 3,5 Tonnen schweren Kleintransportern von Kunde zu Kunde, checken unter Zeitdruck während der Fahrt Lieferadressen, planen Routen für mögliche Retouren. Kein Wunder, wenn da schon mal die nötige Aufmerksamkeit für den Verkehr verloren geht.

Aber auch Wohnmobile basieren auf diesen Transportern und prägen das moderne Straßenbild. Kleintransporter sind auch häufig als Mietautos unterwegs, gerne gesteuert von jungen Studenten, die ihren ersten Umzug machen, aber kaum Fahrerfahrung besitzen.

Wäre es da nicht hilfreich, wenn sie und alle anderen Fahrer von Kleintransportern Assistenzsysteme hätten, die Unfälle verhindern oder zumindest deren Folgen verringern könnten? Ein Notbremssystem zum Beispiel, das vor plötzlich auftauchenden Stauenden, Fußgängern und Radfahrenden automatisch bremst. Oder einen Spurhalteassistent, der zurücklenkt, bevor das Fahrzeug von der Straße abkommt oder in den Gegenverkehr gerät.

Alarmierende Unfallzahlen

Der Ford Transit beim ADAC Transportsicherheitstest
Test Car-to-Car: Kann der Auffahrunfall verhindert werden? © ADAC

Die statistischen Zahlen untermauern den dringenden Handlungsbedarf: In rund zwei Dritteln der Kleintransporter-Unfälle waren deren Fahrer die Hauptverursacher. Doch Unfallforscher haben ermittelt, dass über ein Drittel der von Kleintransportern verursachten Auffahrunfälle sowie Unfälle mit Fußgängern und Radfahrern durch gängige Sicherheitsassistenzsysteme wie Notbrems- oder Spurhalteassistent vermieden oder zumindest in der Schwere abgemildert werden könnten.

Und weil die Unfallfolgen mit Kleintransportern statistisch gravierender ausfallen als bei Pkw, hat der Gesetzgeber reagiert: Viele dieser Assistenzsysteme sind seit Juli 2022 für neue Typgenehmigungen auch gesetzlich vorgeschrieben. So müssen neben Pkw auch Nutzfahrzeuge und Busse bis 3,5 Tonnen seit Juli 2022 – alle Neufahrzeuge ab Juli 2024 – mit einem autonomen Notbremssystem ausgestattet sein, für Systeme mit Fußgänger- und Radfahrererkennung dauert es sogar noch zwei Jahre länger.

Doch diese Systeme sind bereits vorhanden und sogar in der Kleinstwagen-Klasse seit vielen Jahren selbstverständlich ohne Aufpreis verbaut. Nur: Für die Transporter bietet kein einziger Hersteller im Test – es sind die gleichen, die auch die Pkw verkaufen – die lebensrettende Technik in Deutschland serienmäßig an. Teilweise ist sie nicht einmal optional verfügbar.

Ein Skandal – auch vor dem Hintergrund, dass die Hersteller noch schnell ein paar Euro für etwas sparen wollen, dass sie in einem Jahr ohnehin einbauen müssen. Um zu beweisen, wie groß das Ausmaß dieses Skandals ist, vergleicht der ADAC die "schöne neue europäische Welt" mit der deutschen Realität.

Die schöne neue europäische Welt ist das neue Euro-NCAP-Rating 2023 in Vollausstattung, die deutsche Realität ist die gleiche Wertung mit den Assistenzsystemen der Modelle in der mageren deutschen Serienausstattung.

Euro-NCAP-Test 2023 mit Vollausstattung

Während beim Euro-NCAP-Test die Pkw-Modelle immer in der Basisausstattung beurteilt werden, steht bei den Transportern zur besseren europäischen Vergleichbarkeit das Modell in Vollausstattung, also mit allen aufpreispflichtigen Sicherheitssystemen auf dem Prüfstand. Mit den getesteten 18 Modellen sind fast alle in Europa verkauften Transporter abgedeckt. Die Testkriterien und Gewichtung:

  • Notbremsassistent mit Erkennung für Autos (Gewichtung: 30 Prozent), Fußgänger (10 Prozent), Radfahrer (10 Prozent)

  • Spurverlassenswarner/Spurhalteassistent/Toter Winkel (20 Prozent)

  • Geschwindigkeitsassistent (15 Prozent)

  • Insassenüberwachung (15 Prozent)

Nach dem Test erhalten die Modelle ein Label, das sich an Verbraucher, Handwerker, Flottenbetreiber, aber auch an die Politik richtet. Es soll helfen, den zunehmenden Lieferverkehr in Städten sicherer zu machen. Das Label von Bronze bis Platin zeigt, wie gut die Assistenzsysteme im Wagen arbeiten. Ein Problem: Das Label gilt für das vollausgestattete Modell – aufkleben können es auch die mager ausgestatteten Basisversionen.

ADAC Bilanz: 18-mal nicht empfehlenswert

Das Euro-NCAP-Ergebnis 2023: 2-mal Gold, 6-mal Silber, 9-mal Bronze und nur 1-mal nicht empfehlenswert. Platin wurde nicht vergeben. Also: Alles in Ordnung in Europa? Nicht, wenn man die gleiche Auswertung mit der deutschen Serienausstattung macht. Das Ergebnis der ADAC Auswertung ist erschreckend: Bei einem Euro-NCAP-Test mit der deutschen Serienausstattung hätte kein einziger Transporter überhaupt ein Label bekommen. 18-mal lautet das ADAC Urteil: nicht empfehlenswert!

Ergebnisse: Nicht für Deutschland

Euroncap-auszeichnungen
So sehen die Euro-NCAP-Logos 2023 aus © ADAC e.V.

Euro NCAP hat jeweils die Bestausstattung getestet, die in irgendeinem europäischen Land zumindest gegen Aufpreis erhältlich war. Auf der Euro-NCAP-Homepage* findet man neben den ausführlichen Datenblättern der Modelle dafür auch eine interaktive Karte, mit der man die spezifischen Länderangebote abrufen kann.

Wer hier Deutschland anklickt, kann es kaum glauben: Im gesamteuropäischen Vergleich wirken die angebotenen Serienkonfigurationen ärmlich. Alle Assistenzsysteme sind nur optional gegen Aufpreis an Bord. In der Standard-Serienausstattung sind lediglich Gurtwarner verbaut, mehr nicht. VW spart sich diese auch für den Beifahrer, wie auch viele Hersteller selbst den Beifahrerairbag in die kostenpflichtige Optionsliste packen – ganz zu schweigen vom Kopfairbag.

Und die ADAC Experten sind sich sicher: In der Realität wird aus finanziellen Gründen in der Regel nur die Basisausführung geordert. Und Privatkunden entscheiden sich lieber für Sonderausstattungen wie Ledersitze oder Alufelgen als ihr Erspartes für Assistenzsysteme auszugeben.

Passive Sicherheit zeigt starke Lücken

Ein Transporter wird gegen einen PKW gecrashed
Erhöhtes Risiko für alle: Transporter trifft auf Pkw© ADAC/Uwe Rattay

Denn dass die Bestausstattung an Assistenzsystemen prinzipiell keine schlechte Idee ist, beweist ein Offset-Crash, den der ADAC für Euro NCAP zum Testauftakt 2020 durchführte. Er sollte die grundsätzlich vorhandene passive Sicherheit dokumentieren, wenn ein moderner Pkw (Nissan Juke) mit einem halbbeladenen Transporter (Nissan NV400) mit jeweils 50 km/h zusammenstößt. Das Problem: Transporter sind größer und schwerer und haben in der Regel ihre steifen Strukturen in einer größeren Höhe als Pkw. Bei einem Unfall sind die Insassen des kleineren Fahrzeugs durch das geometrische Missverhältnis, die steifen Strukturen und die höhere Masse der Transporter benachteiligt.

Das war auch das Ergebnis des ADAC Crashtests: Fahrer und Beifahrer des Pkw zeigten im Vergleich zu einem "normalen" Pkw-Crash ein deutlich erhöhtes Verletzungsrisiko für Brust, Becken, Oberschenkel, Knie und die unteren Extremitäten.

Doch auch wenn das größere Auto den Unfall klar dominiert: Fahrer und Beifahrer des mit einem halbbeladenen Gewicht von 2,8 Tonnen fast doppelt so schweren Transporters weisen ebenfalls ein hohes Verletzungsrisiko für Brust, Becken, Oberschenkel und Knie auf.

Ein grundsätzliches Risiko: Transporter sind mit passiven Sicherheitssystemen wie Airbags oder Gurtstraffern in der Regel nur spartanisch ausgerüstet. Denn Fuhrparkleiter, die ein knappes Budget verwalten müssen, sparen sich bei der Bestellung schon mal den Haken in der Ausstattungsliste.

Das Fazit des Crashtests: Durch die hohe Masse der Transporter ist deren Gefahrenpotenzial höher, weshalb Assistenzsysteme hier nicht nur für die Fahrer selbst, sondern auch den Unfallgegner unverzichtbar sind. Eine serienmäßige Ausstattung ist deshalb noch wichtiger als im Pkw.

Ohne gesetzliche Regelungen geht's nicht

Ein Transporter fährt auf einen Fußgängerdummy zu
Im Euro NCAP-Test: Notbremsassistent für Fußgänger© ADAC/Uwe Rattay

Die Sicherheit der Insassen von Transportern hat in den letzten zehn Jahren kaum von den Fortschritten in der Fahrzeugsicherheit profitiert: Die Ausstattung mit fortschrittlichen Rückhaltesystemen ist in der Regel schlecht. So bieten von den 18 untersuchten beliebten Transporter-Modellen nur fünf serienmäßig zwei Frontairbags an, keines hat serienmäßige Seitenairbags. Eine echte Sicherheitslücke. Das ist vor allem deshalb unverständlich, weil solche Ausstattungen in den Pkw-Varianten der Modelle schon lange Serie sind.

Immerhin: Ab Juli 2022 sind für neue Fahrzeugtypen (M1 und N1) in der EU die meisten der Systeme verpflichtend eingeführt. Bereits im Markt befindliche Modellreihen sind 2024 dran. Doch man fragt sich, warum die Systeme nicht schon jetzt serienmäßig verbaut werden.

Bis dahin muss man sich noch durch den Konfigurator mühen und den Aufpreis verkraften. Doch liebe Fuhrparkleiter: Assistenzsysteme lohnen sich auch wirtschaftlich, wenn Unfälle dadurch vermieden oder deren Schwere gemindert werden. Und auch wenn das Budget zu knapp ist: Der Notbremsassistent sollte auf jeden Fall rein.

Transporterkauf: ADAC Tipps für die Kunden

  • "Kein Unfall" ist der beste Schutz für Insassen und Unfallbeteiligte: Schützen Sie sich und andere Verkehrsteilnehmer aktiv durch moderne Sicherheitsassistenzsysteme.

  • Neben der Verringerung der Gefahr von Verletzungen und damit Beeinträchtigungen durch Personenausfälle entfällt auch viel Ärger mit der Abwicklung des Sachschadens, wenn ein Unfall verhindert werden konnte.

  • Sicherheitsassistenzsysteme können auch dann eingreifen und unterstützen, wenn die Verkehrs- oder Fahrsituation schwierig oder unübersichtlich ist.

  • Im Berufsumfeld werden zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um Personenschäden auszuschließen. Sicherheitsassistenzsysteme im Fahrzeug sollten fester Bestandteil davon sein.

  • Ein Notbremsassistent für Fußgänger- und Radfahrererkennung sollte mindestens an Bord sein.

  • Der wirtschaftliche Nutzen von Sicherheitsassistenten ist durch Studien belegt. Ein Aufpreis lohnt sich daher auch finanziell.

  • Auch Camper und Wohnmobilfahrer sollten checken, ob Airbags und Assistenten für die Sicherheit im Urlaub an Bord sind.

  • ESP ist ein wertvoller Sicherheitsassistent. Achten Sie beim Kauf von Gebrauchtfahrzeugen, ob er an Bord ist.

ADAC Empfehlungen an Hersteller und Gesetzgeber

  • Modernste Sicherheitsassistenten sollten in vollem Umfang serienmäßig eingesetzt werden.

  • Die Verhinderung von Unfallopfern darf nicht eine Frage der Kosten und Marge sein.

  • Sicherheitsassistenzsysteme (in gewerblichen Fahrzeugen) müssen fester Bestandteil des Unfallschutzes für Mitarbeitende und Gewerbetreibende sein.

  • Durch Förderprogramme für die Beschaffung optionaler aktiver Sicherheitssysteme im Fahrzeug kann die Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr durch Kleintransporter schon vor der Verpflichtung durch die General Safety Regulation nennenswert verringert werden. Bestes Beispiel ist der Abbiegeassistent für Lkw. Denn: Jedes Menschenleben zählt.

Beispiel-Video: Euro-NCAP-Wertung Ford Transit

Bild: © ADAC/Uwe Rattay, Video: © EuroNCAP/ ADAC e.V.

Fachliche Beratung: Burkhard Böttcher, Andreas Rigling/ADAC Technik Zentrum

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