Cannabis-Legalisierung: Rechtsmediziner über THC als Risiko im Straßenverkehr
Interview: Ob man Cannabis mit Alkohol vergleichen kann und welche Konsequenzen die Legalisierung für den Straßenverkehr hat, skizziert Prof. Dr. Matthias Graw, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der LMU München.
Seit dem 1. April gilt in Deutschland eine Teil-Legalisierung von Cannabis. Damit wird der Wirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol) nicht mehr als Betäubungsmittel gelistet und Alkohol und Nikotin gleichgesetzt. Was der Konsum im Körper auslöst und welche Auswirkungen das auf Menschen hat, die sich hinters Steuer setzen, erklärt der Rechtsmediziner im Interview mit der ADAC Redaktion.
ADAC Redaktion: Wird es bald seriöse THC-Abbau-Rechner geben, analog zu den gängigen Alkohol-Rechnern?
Prof. Dr. Matthias Graw: Nach heutigem Stand halte ich es nicht für vertretbar, dass man einen Rechner für Cannabis-Konzentrationen für die Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Bei THC haben wir einfach ein viel zu komplexes System. Das fängt damit an, dass Sie als Konsument gar nicht genau wissen, wie hoch die Konzentration in dem Stoff ist, den Sie zu sich nehmen. Es gibt riesige Streubreiten in der individuellen Verstoffwechslung. Bisher sind alle daran gescheitert, verlässliche Einschätzungen zu machen.
Kann man Wirkung und Abbau von Cannabis und Alkohol miteinander vergleichen?
Das ist ein bisschen, wie wenn man Äpfel mit Birnen vergleicht oder besser Äpfel mit Pflaumen. Das Denkmodell vom Alkohol, das wir alle im Kopf haben, lässt sich nicht auf THC übertragen. Alkohol baut sich kontinuierlich ab, beim THC herrschen völlig andere Verteilungs- und Abbauvorgänge.
Spielen dabei auch Gewicht und Größe eine Rolle?
Zunächst einmal muss man Wirkung und Konzentration getrennt sehen. Die Konzentration ist theoretisch auch von der Statur abhängig. Entscheidend ist aber vielmehr, inwiefern Sie an so eine Giftsubstanz gewöhnt sind. Je häufiger und je mehr Sie so etwas einnehmen, umso mehr hat der Körper eine Toleranz, also eine Art Gewöhnung entwickelt. Und damit ändern sich auch die Wirkungen und Auswirkungen.
Macht es einen Unterschied, ob man Cannabis oral einnimmt, also einen Cookie isst, oder inhaliert?
Ja, da gibt es sehr große Unterschiede. Beim Inhalieren – egal ob Sie es rauchen oder mit Vaporisator einnehmen – haben Sie eine rasche Wirkstoffaufnahme mit einem sehr schnellen Anstieg der Konzentration im Blut. Aber wiederum auch einen sehr schnellen Konzentrationsabfall. Der Gipfelwert ist innerhalb von Minuten durchschritten. Die Wirkung steigt aber noch längere Zeit an, bis zu ein bis zwei Stunden. Das heißt: nachlassende Konzentration bei zunehmender Wirkung. Bei der oralen Aufnahme sind die Gipfelwerte unter Umständen erst nach vier bis sechs Stunden erreicht. Anders als beim Alkohol gibt es beim THC aber keine Dosis-Wirkung-Beziehung, die man nachvollziehbar beschreiben kann.
Was bewirkt THC genau im Körper?
Die Wirkungen von Cannabis sind vielfältig. THC wirkt auf viele Stellen im Körper. Denn letztlich ist es nur ein Aktivator des körpereigenen Endocannabinoid-Systems, das zum Beispiel im Nervensystem ist. Deshalb könnte THC auch als Medikament bei einigen Krankheiten wirken.
Zur Person
Prof. Dr. Matthias Graw leitet das Institut für Rechtsmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo er seit 2001 lehrt. Die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit liegen neben der Forensik in der Verkehrsmedizin und Verkehrssicherheit. Er ist Mitglied im ADAC Ärztekollegium und hat sich in diesem Kreis des Themas "Cannabis aus rechtsmedizinischer Sicht" angenommen.
Die meisten konsumieren aber doch zum Spaß.
Ja. Aber anders als beim Alkohol, der häufig konsumiert wird, weil er als Genussmittel zum Essen passt, ist bei Cannabis die Intention eine andere. Hier steht die Rauschwirkung im Vordergrund. In der akuten Phase des Rausches findet mit THC eine zentrale Dämpfung statt, dann folgt eine euphorische Phase mit Stimmungsaufhellung, einem Entspannungsgefühl, aber auch akustischen und optischen Wahrnehmungsveränderungen.
Klingt nicht so, als sollte man sich in diesem Zustand ans Steuer setzen.
In diesen Phasen sollte man sicher nicht ans Steuer. Studien zeigen außerdem, dass Probanden auch 24 Stunden nach dem Konsum eines Joints, also wenn praktisch kein THC mehr im Serum nachweisbar ist, nicht völlig klar im Kopf sind. Was noch hinzukommt: Es gibt Nebenwirkungen, die das Denk-, Lern- und Erinnerungsvermögen und vor allem die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen. Konsumierende haben zum Beispiel Schwierigkeiten, sich bei einer stumpfen Tätigkeit wie geradeaus Autofahren auf eine Gefahrenwahrnehmung mit anschließender Reaktion einzulassen.
Sie raten bei THC-Konsum also klar vom Autofahren ab?
Zumindest bis man sicherstellen kann, wieder risikofrei zu fahren. Für den Gelegenheitskonsumenten, der am Samstag in der Diskothek einen Joint raucht, ist es sicher kein Problem, am Montag wieder Auto zu fahren. Derjenige, der das ganze Wochenende über etliche Joints raucht, ist eventuell erst am Mittwoch wieder klar im Kopf.
Wie fallen denn dann Cannabis-Konsumenten im Verkehr auf?
Fälschlicherweise wird immer wieder postuliert, dass Cannabis-Konsumenten sich ihrer Einschränkungen bewusst sind und deshalb tendenziell langsam fahren. Aus Beobachtungen bei Fahrproben weiß man: Die fahren durchaus auch zügig. Es sind eher Aufmerksamkeitsprobleme, die Leute sind unachtsam. Aus Fahrsimulationsstudien weiß man beispielsweise, dass Cannabis-Konsumenten Schwierigkeiten haben, eine gerade Fahrlinie zu halten und ständig korrigieren müssen.
„Beim THC ist es unmöglich, von einer bestimmten Symptomatik halbwegs verlässlich auf eine Konzentration zu schließen.“
Prof. Dr. Matthias Graw, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der LMU
So jemanden würde die Polizei vermutlich direkt anhalten.
Ja, aber für die Polizei ist schwierig von dem Erscheinungsbild direkt auf den Wirkstoff zu schließen. Anders als beim Alkohol, wo man es ja meistens riecht. Aber es gibt ein paar Symptome, die beim Cannabis tatsächlich häufiger auftreten. Eine gewisse Apathie ebenso wie Augenrötung, trockene Augen und Schleimhäute. Das sind natürlich keine harten Kriterien, aber Anhaltspunkte, die Ausschlag für eine weitere Kontrolle geben können. Das Problem ist, dass selten nur ein Rauschmittel konsumiert wird. Wir finden in Blutproben häufig THC in Kombination mit Amphetaminen oder Alkohol, was die Ausfälle und damit das Risiko, einen Unfall zu verursachen, drastisch erhöht.
Wie kann man denn den "THC-Pegel" bestimmen?
Man muss eigentlich immer eine Blutprobe untersuchen, um den Wert korrekt zu bestimmen. Es gibt ja kein Atemmessgerät, wie für die Alkoholmessung. Beim THC ist es unmöglich, von einer bestimmten Symptomatik halbwegs verlässlich auf eine Konzentration zu schließen.
Wie wird derzeit von der Polizei getestet?
Gelegentlich gibt es Speicheltests (Mundhöhlenflüssigkeitstests), aber für gewöhnlich wird von der Polizei eher ein Urintest angeboten. Wer keinen Urin abgeben will, kommt direkt zur Blutprobe, was in Großstädten relativ einfach ist. Auf dem flachen Land ist es wiederum schwierig, weil es zu wenig Ambulanzen gibt, wo die Tests schnell durchgeführt werden können.
Glauben Sie, dass der Konsum mit der Legalisierung zunimmt?
Mit der Teil-Legalisierung gehen wir davon aus, dass die Leute häufiger und unbekümmerter konsumieren. Wir können nicht vorhersagen, ob mehr Leute damit anfangen werden. Das muss man einfach abwarten. Bei Jüngeren – wir haben ja heute schon einen nicht unerheblichen Konsum auch bei Minderjährigen – könnte es aber sogar einen gegenteiligen Effekt haben. Also: Es ist nicht mehr unter Strafe gestellt, dadurch ist es nicht mehr so interessant. Da bin ich gespannt, wie sich das entwickelt. Wenn junge Menschen problemlos an hochwertige Substanzen, also höher konzentrierte THC-Proben kommen, dann ist natürlich das Risiko von Folgeerkrankungen erhöht.
Welche zum Beispiel?
Es kann vermehrt zu Entwicklungsstörungen kommen. Und ich befürchte, dass wir eine Zunahme von Psychosen sehen werden. Das wurde in den letzten Jahren schon festgestellt, auch vor dem Hintergrund der höher konzentrierten Cannabis-Sorten.
Man sollte also besser aufklären?
In jedem Fall. Und wenn ich irgendetwas einnehme, ganz egal, ob Cannabis, Alkohol oder Medikamente, muss ich einfach hinterfragen: Bin ich ein Risiko, für mich und für andere? Es geht nicht darum, den Menschen zu verbieten, Alkohol zu trinken oder Cannabis zu rauchen. Aber man muss doch danach nicht Auto fahren. Keiner möchte schließlich in einem Gerichtssaal sitzen und den Tod eines Menschen verantworten müssen, nur weil er zum Beispiel nach einem Joint ins Auto gestiegen ist.