Autonomes Fahren Level 3: Freihändig durch den Stau
In Oberklasse-Fahrzeugen von Mercedes kann der Fahrende dank Level-3-Staupilot während eines Staus lesen oder eine Nachricht schreiben. Teure Spielerei oder sinnvolle Technik? Der ADAC hat es getestet. Plus: Test-Video.
Drive Pilot: Level-3-Fahren im Mercedes S-Klasse/EQS
Nur auf Autobahnen und nur bis 60 km/h erlaubt
Fahrer darf lesen, einen Film anschauen oder eine SMS schreiben
Ein ganz normaler Werktag morgens um acht, die Autobahn A96 ist dicht. Statt zu lenken und auf den Verkehr zu achten, lässt der Tester sich vom Auto durch den Stau chauffieren. Und das funktioniert so: Sobald der Verkehrsfluss auf der Autobahn stockt und das Tempo unter 60 fällt, blinken zwei Tasten am Lenkrad des Fahrzeugs, und mit einem Druck übergibt man das Kommando. Kurz flackert es noch, dann leuchtet es türkisfarben, im Display davor erscheint ein A wie autonom – jetzt fährt das Auto selbstständig.
Autonomes Fahren Level 3 im Mercedes
Der Tester schaut auf den Monitor in der Mittelkonsole und scrollt durch die Menüs. Die Mercedes S-Klasse lässt ihn ungestört die TV-Nachrichten verfolgen oder im Internet stöbern. Selbst der Griff zum Handy ist plötzlich erlaubt, ohne dass man Punkte riskieren würde.
Möglich macht das der Drive Pilot von Mercedes. Damit darf der Fahrende zwar noch nicht schlafen oder gar aussteigen. Doch anders als bei allen aktuellen Abstandstempomaten und Spurhalteassistenten gibt es hier deutlich mehr Freiheit für die Person am Steuer. Sie könnte ein Buch zur Hand nehmen, eine SMS schreiben oder sich anderen Dingen zuwenden.
Level 3: Was der Gesetzgeber zulässt und was nicht
Damit geht Mercedes einen Schritt weiter als die Autobahn-Assistenten, die man heute schon bis hinunter in die Kompaktklasse kaufen kann. Die können zwar in der Theorie fast alle das Gleiche, sind aber nicht so schlau und nicht so sicher. Deshalb übernimmt der Hersteller dort keine Haftung, spricht von einem Assistenzsystem zur Entlastung des Fahrenden und schlägt schon nach wenigen Sekunden Alarm, wenn man die Hände zu lange in den Schoß legt.
Mercedes dagegen steht in einer relativ klar definierten Stausituation voll für das Drive-Pilot-System und seine Sicherheit ein und erteilt der Kundschaft damit zum ersten Mal eine "Steuerbefreiung".
So funktioniert der Drive Pilot
Damit das chauffierte Fahren funktioniert, ist eine Menge schlaue Technik an Bord des Mercedes. Eine gigantische Menge an Daten rund ums Fahrzeug wird erhoben, die von einem zentralen Steuergerät hinten links im Kofferraum verarbeitet werden muss. Der Rechner analysiert und fusioniert die Informationen von zwölf Ultraschallsensoren an Front, Flanken und Heck, vier Kameras in den Spiegeln, der Stereokamera in der Front und einer weiteren Kamera in der Heckscheibe, einem halben Dutzend Radaren, einer hochempfindlichen GPS-Antenne sowie einem sündhaft teuren Lidar im Grill.
ADAC Test: Die Grenzen des Drive Pilot
"Leider stößt das System sehr oft an Grenzen", erklärt Andreas Rigling, ADAC Experte für aktive Fahrzeugsicherheit. Rigling und sein Team haben sich im ADAC Testzentrum Mobilität in Penzing und auf öffentlichen Straßen in der Umgebung die Level-3-Funktion im Mercedes EQS genauer angeschaut.
Dabei mussten sie feststellen, dass der Drive Pilot in diversen Testsituationen eben nicht funktioniert. Rigling: "Das System leidet unter vielen massiven Einschränkungen. Manchmal ist die Funktion sogar bei eigentlich passenden Bedingungen nicht verfügbar. Und schaut man etwa zu lange weg, beginnt eine recht harsch eskalierende Warnkaskade."
Bilder: Mit dem Drive Pilot unterwegs
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Hier funktioniert der Drive Pilot (noch) nicht
Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Drive Pilot funktioniert nicht:
bei Dunkelheit/in der Nacht
bei Nebel oder Regen
in Baustellen und Tunneln
bei Temperaturen unter 4 Grad Celsius
Auch Zeitung lesen duldet die im Auto befindliche Fahrerüberwachung nicht. Dann steigt das System aus, weil es nicht erkennt, was der Fahrende tut – ob er schläft oder ob er/sie überhaupt noch an Bord ist. Und wenn sich plötzlich Fußgänger und Fußgängerinnen auf der Straße befinden, weil sie sich im Stau-Stillstand die Beine vertreten, quittiert der Staupilot ebenfalls seinen Dienst. Sicherheit hat oberste Priorität.
Dass das System so konservativ ausgelegt ist und bei jedem kleinsten Zweifel, ob alles in Ordnung ist, die Segel streicht, liegt daran, dass im Level-3-Betrieb die Verantwortung der Fahraufgabe auf den Hersteller übergeht. Im Falle eines Unfalls würde also der Hersteller – nicht der Fahrende – sich vor dem Gesetz verantworten müssen. Nicht zuletzt drohen damit Schadenersatzansprüche, die sich kein Autohersteller leisten will.
Andreas Rigling ist trotz aller Einschränkungen überzeugt, dass Mercedes mit dem Drive Pilot ein Durchbruch in Richtung autonomes Fahren gelungen ist: "Mit dem Drive Pilot ist erstmals ein vorübergehendes Abwenden des Fahrenden von der Fahraufgabe unter bestimmten Bedingungen möglich."
Entwicklung: Wie geht es weiter?
Auf den ersten Blick hat das System zwar mehr Einschränkungen als Nutzen und ist durch den deftigen Aufpreis (im Mercedes EQS 7000 Euro) noch lange nicht im breiten Markt angekommen. Dennoch ist der Schritt hin zu echter Automatisierung mit Übergabe der Verantwortung an den Hersteller sehr zu begrüßen.
Die Entwicklung sollte unbedingt weiterverfolgt werden. Dabei wäre zu wünschen, dass sich Mercedes bald zutraut, das System in Tunnels und unter 4 Grad Celsius funktionsfähig einzusetzen. Auch die Ausweitung des Geschwindigkeitsbereichs von maximal 60 auf 90 km/h wäre ein guter nächster Schritt. Eine automatisierte Folgefahrt hinter einem Lkw hätte einen großen Effekt für die Nutzbarkeit auf der Autobahn. Der Gesetzgeber hat den Rechtsrahmen dafür schon geschaffen: für Geschwindigkeiten bis 130 km/h.
Mit Textbausteinen von Thomas Geiger.
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