Automatisiertes Fahren mit Staupilot: Freihändig in der S-Klasse

Erste Testfahrt mit dem Staupiloten von Mercedes
Erste Testfahrt mit dem Staupiloten von Mercedes© Mercedes

Die Mercedes S-Klasse bietet als erstes Serienfahrzeug einen Autobahn-Staupiloten, mit dem der Fahrer sich anderen Aufgaben zuwenden darf. Wie das System funktioniert und wie es sich für den arbeitslosen Fahrer anfühlt.

  • Staupilot: Level-3-Fahren in der Mercedes S-Klasse

  • Nur auf Autobahnen und nur bis 60 km/h erlaubt

  • Fahrer darf lesen, einen Film anschauen oder eine SMS schreiben

Ein ganz normaler Werktag morgens um acht, die Autobahn A40 ist wie immer dicht, und die Gesichter in den anderen Autos werden lang und länger. Nur Jochen Haab beginnt mit jedem Kilometer mehr zu strahlen, um den das Tempo fällt. Für ihn ist jeder Stau eine Schau, und während der Arbeitszeit kann ihm nichts Besseres passieren, als wieder irgendwo stecken zu bleiben.

Haab gehört zu den Entwicklern des Mercedes Drive Pilot und kommt mit seiner Arbeit nur im Stau so richtig voran. Wenn er bald die letzten Testkilometer eingesammelt hat und die Behörden seinem System ihren Segen geben, soll der Drive Pilot solchen Szenarien den Schrecken nehmen. Da darf der Fahrer zwar noch nicht schlafen oder gar aussteigen. Doch anders als bei allen aktuellen Abstandstempomaten und Spurhalteassistenten gibt es künftig kein zeitliches Limit mehr für den Einsatz der Elektronik und dafür deutlich mehr Freiheit für den Fahrer.

Autonom: S-Klasse übernimmt das Fahren im Stau

Autor Thomas Geiger: Hände weg vom Steuer © Mercedes

Sobald der Verkehrsfluss auf der Autobahn stockt und das Tempo unter 60 fällt, blinken zwei Tasten am Lenkrad der S-Klasse, und mit einem Druck übergebe ich das Kommando. Kurz flackert es noch, dann leuchtet es türkis, im Display davor erscheint ein "A" wie autonom – jetzt hat der elektronische Fahrer, der Drive Pilot, das Sagen.
Statt zu lenken und auf den Verkehr zu achten, nehme ich die Hände vom Lenkrad, und als nach 20, 30 Sekunden noch immer kein Warnton kommt, der mich aus der Ruhe reißt, schaue ich auf den Monitor in der Mittelkonsole und scrolle durch die Menüs. Und siehe da: Die Mercedes S-Klasse lässt mich ungestört die TV-Nachrichten verfolgen oder im Internet stöbern. Selbst der Griff zum Handy ist plötzlich erlaubt, ohne dass ich Punkte riskiere.

Fahrer kann die Zeit nutzen und entspannen

Natürlich komme ich damit auch nicht schneller durch den Stau. Aber ich kann die Zeit sinnvoller nutzen, bin am Ende auf jeden Fall entspannter und freue mich deshalb über Freizeit und Freiheit bei nervtötenden Fahrten. Gelegenheit dazu gibt es auf den chronisch überlasteten Autobahnen rund um die Metropolen mehr als genug.

Damit geht Mercedes einen Schritt weiter als die Autobahn-Assistenten, die man heute schon bis hinunter in die Kompaktklasse kaufen kann. Die können zwar in der Theorie fast alle das gleiche, sind aber nicht so schlau und nicht so sicher. Deshalb übernimmt der Hersteller dort keine Haftung, spricht von einem Assistenzsystem zur Entlastung des Fahrers und schlägt schon nach wenigen Sekunden Alarm, wenn der Fahrer die Hände zu lange in den Schoß legt. Mercedes dagegen steht in einer relativ klar definierten Stausituation voll für das Drive-Pilot-System und seine Sicherheit ein und erteilt der Kundschaft damit zum ersten Mal eine Steuerbefreiung.

Automatisiertes Fahren Level 3 seit Juni 2021 erlaubt

Gregor Kugelmann, Entwicklungs-Chef für die Assistenzsysteme, erklärt die Technik © Mercedes

Für Entwickler wie Haab ist diese Form des automatisierten Fahrens, das unter den Experten als "Level 3" klassifiziert wird, nichts Neues. Schon seit Jahren sind die Ingenieure fast aller Autohersteller auf mittlerweile jedem denkbaren Straßentyp mit dem System unterwegs. Neu ist der Umstand, dass diese Technik nun auch in Kundenhand kommt und der Gesetzgeber das seit Juni 2021 erlaubt. Die Betriebsgenehmigung erteilt das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA).
Das Fahren auf Level 4 ist in der Vorbereitung beim Gesetzgeber. Die im Mai 2022 vom Bundesrat verabschiedete Verordnung zum autonomen Fahren (AFGBV) regelt, in welchen Betriebsbereichen Level-4-Kraftfahrzeuge zugelassen werden dürfen, und welche technischen Anforderungen an den Bau, die Beschaffenheit und die Ausrüstung zu stellen sind. Bis wir Level-4-Fahrzeuge auf der Straße sehen, wird es noch einige Zeit dauern.

Level 3: Was der Gesetzgeber zulässt und was nicht

Weil der Hersteller die Verantwortung beim Fahren schon ab Level 3 übernimmt, sind die Schwaben ziemlich vorsichtig: Bei Nacht und Nebel, ja sogar bei Nieselregen quittiert der Drive Pilot von Mercedes deshalb genauso den Dienst wie bei Temperaturen nahe des Gefrierpunktes, in Baustellen oder Tunneln. Und weil der Fahrer im Zweifelsfall mit einer Vorlaufzeit von maximal zehn Sekunden Vorwarnung wieder übernehmen muss, kontrolliert eine Infrarot-Stereo-Kamera im Fahrerdisplay ständig seine Einsatzbereitschaft. Surfen oder Schwatzen ist erlaubt, schlafen ist aber genauso verboten wie dauerhafter Blickkontakt mit den Hinterbänklern. Im Extremfall hält das Fahrzeug am rechten Rand der Fahrspur an, setzt den Warnblinker und schaltet sich ab.

Der Drive Pilot scheint bei dieser ersten Testfahrt mit der Restaufmerksamkeit seines Fahrer sehr zufrieden. Ich gewöhne mich an die zunächst ungewohnte Situation. Nach den ersten drei, vier Einsätzen genügt ein Knopfdruck, dann habe ich das System nach jeweils wenigen Sekunden vergessen und verstricke mich wie selbstverständlich in ein intensives Gespräch samt Blickkontakt mit dem Beifahrer.

Zahlreiche Sensoren und eine gigantische Rechenleistung

Lidar, Radar, Kameras: Die Sensorik der S-Klasse © Mercedes

Während ich mit Haab über die nächsten Entwicklungsschritte oder die Chance von Robo-Taxen ganz ohne Fahrer philosophiere und nebenbei noch mein Facebookprofil prüfe, läuft das Steuergerät hinten links im Kofferraum zur Höchstform auf. Mit mehr Rechenleistung als alle Chips der alten S-Klasse zusammen analysiert und fusioniert es die Informationen von 12 Ultraschallsensoren an Front, Flanken und Heck, vier Kameras in den Spiegeln, der Stereokamera in der Front und einer weiteren Kamera in der Heckscheibe, einem halben Dutzend Radaren, einer hochempfindlichen GPS-Antenne sowie dem sündhaft teuren Lidar im Grill und steuert den Luxusliner feinfühlig und flüssig durch den zähen Verkehr.

Sobald das Tempo unter 30 fällt, schwenkt die S-Klasse ein wenig zum richtigen Rand und bildet schon mal eine Rettungsgasse. Das ist wichtig, falls plötzlich von hinten die Polizei mit Blaulicht naht. Gerät das System an seine Grenzen – zum Beispiel, wenn sich ein Radler auf die Autobahn verirrt haben sollte oder wenn ein Pannenfahrzeug in die Spur hineinragt – ruft die S-Klasse mich mit einer Kaskade von Warnhinweisen zurück ins Hier und Heute. Dann bin ich wieder Herr der Lage – bis die Situation gemeistert ist und mir die Elektronik erneut die Rücknahme anbietet. Eine Arbeitsteilung, mit der ich leben kann.

Text: Thomas Geiger

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