"Je länger die Verkehrswende sich verzögert, desto teurer wird es"
Im Interview erklärt Wiebke Zimmer von der Klimaschutz-Organisation Agora Verkehrswende, wieso klimaneutrale Mobilität nur mit Elektroautos und Verbrenner-Aus gelingt – und was sie von der EU-Politik erwartet.
ADAC Redaktion: Wie bewerten Sie die Ergebnisse der Europawahl mit Blick auf die angestrebte Verkehrswende und den Mobilitätsektor in der EU insgesamt?
Wiebke Zimmer: Grundsätzlich bewerte ich es als positiv, dass es weiterhin eine breite demokratische Mitte im Europaparlament gibt und eine zukunftsorientierte EU-Politik nach wie vor möglich ist. Die Klimaziele werden von der Mehrheit der Parteien nicht infrage gestellt – trotz des Zuwachses der Rechtsaußen-Fraktionen. In den nächsten fünf Jahren wird es vor allem darum gehen, wie die Klimapolitik im Verkehrssektor zu Standortsicherung, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Gerechtigkeit beitragen kann.
Zur Person
Wiebke Zimmer ist seit Januar 2022 stellvertretende Direktorin der Organisation Agora Verkehrswende. Davor war die promovierte Physikerin und Diplomchemikerin 16 Jahre am Öko-Institut tätig und führte dort ab 2013 als stellvertretende Leiterin des Bereichs Ressourcen & Mobilität das Team für nachhaltige Mobilität. Von 2001 bis 2004 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet "Schadstoffminderungen und Energieeinsparung im Verkehr" des Umweltbundesamtes.
Wie geht es Ihrer Meinung nach mit dem European Green Deal weiter, der bis 2050 eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor um 90 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 vorsieht?
Das hängt davon ab, ob Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission wiedergewählt wird. Dieses Klimapaket ist das Top-Thema ihrer bisherigen Amtszeit, an dem sie stets festgehalten hat. Es sieht danach aus, dass sie ihre Position behalten wird. Deshalb gehe ich erst mal davon aus, dass der Green Deal unverändert Bestand hat.
Zur Organisation
Agora Verkehrswende ist ein Thinktank für klimaneutrale Mobilität mit Sitz in Berlin. Im Dialog mit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft setzt sich die überparteiliche und gemeinnützige Organisation seit dem Jahr 2016 dafür ein, die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor auf null zu senken. Dafür entwickelt sie wissenschaftlich fundierte Analysen und schlägt Strategien vor. Agora Verkehrswende ist eine Initiative der Stiftung Mercator und der European Climate Foundation.
Das für 2035 beschlossene Verbrenner-Verbot für neue Autos – ein Kernelement des Green Deals – steht zur Diskussion. Rechnen Sie damit, dass es rückgängig gemacht wird?
Nein. Wie beim Green Deal insgesamt rechne ich auch bei den CO₂-Flottengrenzwerten für Pkw nicht mit einem grundlegenden Kurswechsel. Dass die EU-Kommission die Fortschritte bei der Umsetzung im Jahr 2026 überprüft, ist fester Bestandteil der vereinbarten Rechtsvorschriften. Davon hängt auch ab, ob die Entscheidung, keine Neuwagen mit Treibhausgasemissionen mehr zuzulassen, weiterhin Bestand haben wird. Es gibt gute Gründe, daran festzuhalten.
Können Sie diese genauer erläutern?
Europa möchte bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden. Das wird nur funktionieren, wenn die CO₂-Emissionen im Verkehrssektor deutlich sinken. Da europäische Fahrzeuge durchschnittlich 15 Jahre auf den Straßen eingesetzt werden, können demzufolge ab dem Jahr 2035 keine Neuwagen mehr zugelassen werden, die Treibhausgase ausstoßen. Studien mit verschiedenen Szenarien zeigen: Je länger der Wandel hinausgezögert wird, desto teurer und schwieriger wird es für die Gesellschaft und die Industrie, die Klimaziele zu erreichen und wettbewerbsfähig zu bleiben.
Die Debatte, ob die Antriebswende auf der Straße wie geplant stattfindet, verunsichert nicht nur die Autohersteller, sondern auch Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn der Kurs auf Elektromobilität politisch infrage gestellt wird, entsteht der fälschliche Eindruck, als gäbe es schon bald andere Lösungen, mit denen sich die Klimaziele erreichen ließen. Da fällt es Kaufinteressierten schwer, sich zu entscheiden.
„Bezahlbare E-Autos wären auch deshalb notwendig, weil das Tanken von Verbrennern durch den steigenden CO2-Preis immer teurer wird“
Wiebke Zimmer (Agora Verkehrswende)
Die EU-Kommission droht mit Strafzöllen auf E-Autos aus China. Was halten Sie davon?
Bis zum Jahr 2030 sollen in Deutschland 15 Millionen vollelektrische Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein. Das ist das Ziel der Bundesregierung, um die Klimaziele zu erreichen. Doch es fehlen gute und preiswerte Angebote für E-Autos – vor allem bei den Kleinwagen.
Wenn die Importzölle für Elektrofahrzeuge aus China steigen, ist es unwahrscheinlich, dass die Preise sinken. Für die meisten Verbraucherinnen und Verbraucher bleiben die Anschaffungskosten dadurch vermutlich zu hoch. Auch deutsche Autohersteller produzieren in China und sind betroffen.
Bezahlbare Alternativen zu Verbrennern wären auch deshalb notwendig, weil Tanken wegen des steigenden CO₂-Preises immer teurer wird. Alle Einkommensgruppen sollten sich den Umstieg auf E-Mobilität leisten können.
Konservative und Liberale drängen im neu gewählten Europaparlament auf einen technologieoffenen Klimaschutz – und auf synthetische Kraftstoffe in Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren. Können die E-Fuels das CO₂-Problem im Straßenverkehr lösen?
E-Fuels sollten dort zum Einsatz kommen, wo klimaneutrale Antriebsalternativen fehlen – das ist der Luft- und Seeverkehr. Um die EU-Klimaziele im Straßenverkehr bis 2035 zu erreichen, werden E-Fuels keinen nennenswerten Beitrag leisten können. Einerseits ist ihre Herstellung sehr teuer und die Energieumwandlung bei synthetischen Kraftstoffen vergleichsweise ineffizient. Andererseits sind sie noch nicht in ausreichender Menge verfügbar, weil es kaum Produktionsanlagen gibt.
Daher sind E-Autos die zentrale Säule für den Klimaschutz im Straßenverkehr – vorausgesetzt, die Umstellung der Stromversorgung auf 100 Prozent erneuerbare Energien gelingt wie geplant.
„Es bräuchte eine klimagerechte, effiziente und sozial ausgewogene Reform der Steuern, Abgaben und Subventionen im Straßenverkehr, dann könnten Kaufzuschüsse für E-Autos gegenfinanziert werden.“
Wiebke Zimmer (Agora Verkehrswende)
Die Antriebswende auf der Straße hat zuletzt an Tempo verloren, und der Verkehrsbereich hat auch im Jahr 2023 deutlich mehr Abgase verursacht als gesetzlich erlaubt sind. Was erwarten Sie von der EU-Politik, damit sich da mehr tut?
Das hat in Deutschland aktuell auch damit zu tun, dass es keinen staatlichen Umweltbonus mehr für Elektroautos gibt. In anderen EU-Staaten wie Frankreich oder den Niederlanden gibt es nach wie vor Kaufprämien, und ein E-Fahrzeug wird günstiger besteuert als ein Verbrenner. Für einen schnellen Markthochlauf der Elektromobilität kommt es neben den Flottengrenzwerten für Pkw aus meiner Sicht maßgeblich auf die Förderung in den Mitgliedsländern an.
Um in Deutschland mehr Tempo zu machen, bräuchte es eine klimagerechte, effiziente und sozial ausgewogene Reform der Steuern, Abgaben und Subventionen im Straßenverkehr. Zum Beispiel sollte die Pauschalbesteuerung für Verbrenner-Dienstwagen auf 1,5 Prozent angehoben und die Kfz-Steuer auf die Erstzulassung konzentriert und nach CO₂ differenziert werden. Kaufzuschüsse für E-Autos können über die Einnahmen aus der Kfz-Steuer gegenfinanziert werden.
Was erwarten Sie beim öffentlichen Personenverkehr von der EU-Politik?
Beim Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs sind in erster Linie die EU-Staaten verantwortlich. Die Europäische Kommission macht dazu regelmäßig Empfehlungen und rechtliche Vorgaben.
Der Anteil von Bus und Bahn ist in allen europäischen Ländern eher zurückgegangen als gestiegen. Gut wäre daher eine Arbeitsgruppe auf EU-Ebene, die eine Methode für EU-weite Angebots-Standards für den öffentlichen Verkehr entwickelt. Solch eine Mobilitätsgarantie für Bus und Bahn gibt es zum Beispiel in Österreich und der Schweiz.
Neben Verbesserungen der Infrastruktur für grenzüberschreitende Verkehre, insbesondere auf der Schiene, ist es wichtig, das Ticketing benutzerfreundlicher zu machen. Es ist sehr aufwendig, wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einem EU-Land in ein anderes fahren möchte. Reisende müssen dafür verschiedene Ticketsysteme nutzen, und es gibt meist keine Gewährleistung unter den Verkehrsunternehmen innerhalb Europas etwa bei stornierten oder verspäteten Bahnreisen.