"Die CO₂-Bepreisung in ihrer jetzigen Form ist nicht gerecht"

Portrait von Die Linke Politiker Martin Schirdewan im ADAC Interviewformat
Martin Schirdewan ist – im Team mit Carola Rackete – Spitzenkandidat der Linken für die kommende Europawahl© Chudowski

Martin Schirdewan führt "Die Linke" in einer Doppelspitze mit Carola Rackete in die Europawahl. Im Interview erklärt er, wie "Die Linke" die Mobilitätswende finanzieren will, warum er Privatjets verbieten will und was die USA besser machen als Deutschland.

ADAC Redaktion: Warum ist die Europawahl wichtig?

Martin Schirdewan: Wir stehen vor einer Richtungswahl. Es ist absolut besorgniserregend, dass der Wahlkampf von extrem rechten Schlägertrupps genutzt wird, um Demokraten zu attackieren, mit roher Gewalt und Einschüchterung. Die demokratische Gesellschaft steht vor der Herausforderung, entschieden dagegenzuhalten und weder die Straße noch den virtuellen Raum den Rechten zu überlassen. Deshalb müssen wir den Rechten mit kluger Politik den sozialen Nährboden für ihre Hetze entziehen.

Das heißt auch, dass wir über das Thema Verkehrswende einerseits kontrovers, aber zugleich sehr zukunftsorientiert diskutieren müssen. Damit die Menschen wissen, wo wir hinwollen und wie sich Mobilität mit Nachhaltigkeit und Teilhabe verbinden lässt.

Kontrovers diskutiert wird zum Beispiel das Thema E-Fuels. In Ihrem Programm bezeichnen sie diese als "falsche Technologie". Wie kommen Sie zu dieser sehr eindeutigen Haltung?

Die energetische Bilanz von E-Fuels ist schlechter als die der E-Mobilität. Das sagt nicht nur "Die Linke", das sagen auch unabhängige Institute. Es ist kein Zufall, dass außer Porsche alle wichtigen Autohersteller die Zukunft in der Elektromobilität sehen. Und wesentlich weniger Geld in E-Fuels investiert wird. Man kann natürlich von Technologieoffenheit sprechen, aber dann kann man auch sagen, dass die Erde eine Scheibe ist.

Zur Person

Martin Schirdewan (48) ist neben Janine Wissler Vorsitzender der Linken und gemeinsam mit Carola Rackete Spitzenkandidat seiner Partei für die Europawahl. Der promovierte Politikwissenschaftler war Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften und ist seit 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments. 2019 wurde er zum Co-Vorsitzenden der Fraktion "The Left" gewählt. Er stammt aus Berlin.

Sowohl Verkehrsminister Volker Wissing als auch der CSU-Europawahl-Spitzenkandidat Manfred Weber sehen das anders. Beide wollen das Verbrenner-Aus wieder zurücknehmen.

Diesen unverantwortlichen Populismus gibt es nicht nur bei CSU und FDP, sondern auch in der extremen Rechten und bei anderen Zukunftsverweigerern wie dem "Bündnis Sarah Wagenknecht".

Man sieht daran aber auch, welch emotionales Thema Mobilität ist. Viele in Deutschland blicken mit Stolz aufs Auto. Deshalb muss man darüber diskutieren, wie diese Industrie gesichert werden kann, wie gute Jobs und Klimaschutz Hand in Hand gehen können.

E-Mobilität ist derzeit ein Privileg der Besserverdienenden. Wie kann sich das ändern?

Das ist die entscheidende Frage. Derzeit ist die Klimaschutzpolitik sozial ungerecht. Die Bundesregierung hat ein Klimageld versprochen, um die Bevölkerung von der CO₂-Bepreisung zu entlasten, es bisher aber nicht eingeführt. Und wenn ein Versprechen nicht gehalten wird, dann wächst die Skepsis. Deshalb muss das Klimageld kommen.

Ich kritisiere aber auch die Automobilkonzerne. Der Fokus liegt ganz klar auf dem Luxussegment, auf SUVs. Es müssen auch in Europa günstige Fahrzeuge produziert werden. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass die Menschen besonders auf dem Land noch lange auf das Auto angewiesen sein werden.

Wie kann die EU dabei konkret helfen?

Die Europäische Union ist dafür von zentraler Bedeutung. Zum einen brauchen wir eine europäische Industriepolitik, die mit gezielten Investitionen Fortschritt ermöglicht. China ballert Geld in die Elektromobilität, und auch in den USA gibt es hohe öffentliche Subventionen, um dort die Arbeitsplätze der Zukunft zu schaffen. Die Zukunftsblockade durch die Schuldenbremse ist da völlig absurd, sie ist eine Investitionsbremse – während alle anderen längst massiv investieren. Die EU kann außerdem mit einem Rekommunalisierungsfonds helfen.

Können Sie das näher erläutern?

Durch die Privatisierungen der letzten Jahrzehnte sind im Mobilitätsbereich viele Angebote verloren gegangen. Der Fonds könnte es den Kommunen ermöglichen, die Mobilität wieder in öffentliche Hand zu bringen. Und dann Bahnlinien wieder zu eröffnen und die Takte im Nahverkehr dichter machen. So würde die individuelle Entscheidung für einen Umstieg auf den ÖPNV leichter fallen.

Und es braucht eine andere Steuerpolitik, die Schlupflöcher für multinationale Konzerne schließt und Subventionen an ökologische und soziale Auflagen bindet. Da können wir uns ein Beispiel an den USA nehmen. Auf diesem Gebiet ist die Regierung Biden der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen weit überlegen.

Befürchten Sie, dass die Mobilitätswende hin zu mehr Klimaschutz zu Lasten der Beschäftigten geht?

Ich bin eher optimistisch. Aber nur unter der Voraussetzung, dass die Mobilitätswende als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angenommen und gemeinsam gestaltet wird. In der Automobilindustrie sehen wir seit Jahren einen Abbau von Arbeitsplätzen durch Robotisierung und Digitalisierung. Deshalb müssen die Gewerkschaften mit den Betrieben aushandeln, wie Arbeitsplätze zukunftsfähig gemacht werden können. Jetzt muss mehr Geld in Busse, Straßenbahnen und die Schiene investiert werden, dort müssen gut bezahlte Arbeitsplätze entstehen.

Dass die Autohersteller allein über die Verwendung der Fahrzeugdaten entscheiden können – das geht nicht.

Martin Schirdewan, Die Linke

Die Digitalisierung könnte nicht nur Arbeitsplätze kosten, sondern schafft auch neue Begehrlichkeiten. Wer sollte Zugang zu Fahrzeugdaten haben?

Ich war Berichterstatter meiner Fraktion im Europaparlament zum Digital Service Act und dem Digital Markets Act. In Brüssel habe ich immer dafür gekämpft, dass die Datenhoheit bei den Nutzerinnen und Nutzern liegt.

"Die Linke" hat da eine ganz ähnliche Position wie der ADAC. Nämlich dass die Daten, die im Auto entstehen, den Autofahrerinnen und Autofahrern gehören sollten. Die Endverbraucher müssen die Wahl haben. Und die kann auch so ausfallen, dass sie einen Teil der Daten in die Forschung und Entwicklung der Hersteller einfließen lassen. Aber dass die Hersteller allein entscheiden können – das geht nicht.

Der Ausbau des ÖPNV, gerade auf europäischer Ebene, ist eine riesige Aufgabe. In Deutschland sieht man gerade, wie anspruchsvoll das etwa bei der Bahn ist – den Deutschlandtakt könnte es erst 2070 geben. Wie wollen Sie hier schneller werden?

Die große Verzögerung beim Deutschlandtakt ist tatsächlich fatal. Für unser Projekt "United Railways of Europe" verlangen wir aufeinander abgestimmte europäische Bahnnetze. Der Trend geht in diese Richtung, europäische Hauptstädte werden mit Hochgeschwindigkeitszügen verknüpft, es gibt auch wieder mehr Nachtzüge. Bis 2035 sollten wir doch in der Lage sein, die europäischen Großstädte gut miteinander zu verbinden. Es kann ja nicht zu viel verlangt sein, dass die Bahnkonzerne miteinander reden.

Stillgelegte Bahntrasse
Eine stillgelegte Bahntrasse: "Die Linke" will alte Strecken reaktivieren© imago images/Future Image

Es wird viel von Milliardeninvestitionen in Hochgeschwindigkeitsverbindungen zwischen den Metropolen gesprochen. Wundert Sie es da, dass sich die Menschen auf dem Land abgehängt fühlen?

Nein. Gerade Ostdeutsche haben erlebt, wie massiv regionale Bahnstrecken abgebaut und Bahnhöfe geschlossen wurden, in vielen Orten gibt es nicht einmal mehr eine Busverbindung. Da braucht es selbstverständlich eine Taktung, die auf die Bedürfnisse der Menschen angepasst ist, damit sie ihre alltäglichen Erledigungen machen können. Das gilt besonders für die Älteren oder die Jungen, die nicht mehr oder noch nicht Autofahren können.

Zugleich müssen wir akzeptieren, dass Menschen weiter Autofahren wollen oder müssen, weil ihre Wohnorte nicht angebunden werden können. Deshalb braucht es massive Investitionen, auch in die Ladeinfrastruktur. Das muss aus meiner Sicht der Staat übernehmen.

Neue Verkehrsregeln, Spritpreise und Verbraucher-Tipps

Verkehr soll, wenn es nach der Linken geht, von der CO₂-Bepreisung befreit werden. Viele Experten sehen höhere Preise für fossile Energie aber als gutes Lenkungsinstrument und Einnahmequelle für Investitionen in den Klimaschutz. Woher soll das Geld für all Ihre Vorhaben denn sonst kommen?

Die CO₂-Bepreisung in ihrer jetzigen Form ist nicht gerecht. Es ist zwar richtig, dass umweltschädliche Emissionen durch Kostenanreize erschwert werden. Nur ist die Frage: Wer zahlt? Sind es die, die sowieso kaum Geld im Portemonnaie und wenig Einfluss haben, oder die Verursacher wie große Konzerne und Superreiche? Für Letztere müssen wir die Preise hoch setzen.

Zusätzlich müssen wir Einnahmen generieren, um den Klimaschutz voranzubringen. Mit einer Vermögenssteuer ließen sich laut Oxfam europaweit 280 Milliarden pro Jahr generieren, damit könnten wir den sozial gerechten Umbau vorantreiben. Für diese Umverteilung von oben nach unten setzen wir uns ein.

Ein Privatjet hebt an einem Flughafen ab
Geht es nach der Linken, sollen Privatjets künftig verboten werden© Shutterstock/Photofex_AUT

Aber verursacht nicht jemand, der jeden Tag mit dem Auto fährt, auch CO₂? Oder jemand, der die Wärme zum Heizen aus einem Kohlekraftwerk bezieht? Die Konzerne würden höhere Kosten doch an die Endverbraucherinnen und Endverbraucher weitergeben.

Das ist ein Dilemma. Deswegen müssen solche Entwicklungen mit dem Klimageld abgefedert werden. Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass der ökologische Fußabdruck von Milliardären mit Privatjet um ein vielfaches höher liegt, als der eines Menschen, der jeden Tag zur Arbeit fahren muss.

Dieses Dilemma gibt es auch beim Flugverkehr. Fielen die Vergünstigungen, etwa die Steuerbefreiung von Flug-Kerosin, für die europäische Luftfahrtbranche weg, wie Sie das fordern, würde das wohl zu teureren Tickets führen. Immer weniger könnten sich das Fliegen leisten. Wie löst man das auf?

Durch mehr Gleichheit in der Gesellschaft. Die Ungleichheit hat in allen europäischen Staaten zugenommen, die fünf reichsten Familien in Deutschland besitzen mehr als die untere Hälfte der Menschen. Das sind Zustände wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten.

Viele haben Sorge, ihre Miete nicht mehr zahlen zu können, die Lebensmittelpreise sind in den letzten Jahren um 34 Prozent gestiegen. Und dann profitieren die, die sich viele Flugreisen leisten können, zusätzlich noch von der Kerosin-Steuerbefreiung. Und tragen so massiv zur Umweltverschmutzung bei. Hier muss man regulierend eingreifen: Steuerprivilegien überwinden, Privatjets verbieten.

Und wir brauchen eine soziale Verkehrswende, die Flugreisen auf das Notwendigste reduziert, indem man endlich mit dem Zug in Europa überall gut hinkommt. Der jährliche Flug in den Urlaub ist für jeden trotzdem möglich, wenn entsprechend umverteilt wird.