Lkw-Abbiegeassistenten im Test: So verhindern sie schwere Unfälle
Abbiegeassistenten können Unfälle zwischen Lkw und Radfahrern verhindern. Die Systeme gibt es auch als Nachrüstlösung und werden vom Staat gefördert. Doch der ADAC Test beweist: Die Technik funktioniert nicht in jedem Fall perfekt.
Neun Lkw-Abbiegeassistenten zum Nachrüsten im Test
Mangelhaft: Vier Systeme fallen durch
Bund fördert den Einbau – auch den der schlechten Systeme
Es passiert leider immer wieder: Ein Lkw übersieht beim Abbiegen einen Fahrradfahrer, und es kommt zum Zusammenstoß. Mit fatalen Folgen: Bei Kollisionen mit einem Lkw sterben in Deutschland jährlich etwa 70 Radfahrer, 665 werden schwer verletzt. Und jeder Dritte dieser Unfälle war ein Abbiegeunfall mit einem Radfahrer im toten Winkel.
Abhilfe sollen Abbiegeassistenten schaffen. Sie überwachen den Bereich neben dem Lkw und warnen den Fahrer, wenn sich ein Fahrradfahrer im toten Winkel befindet. Das kann Leben retten. Deshalb ist es sinnvoll, dass die „General Safety Regulation“ auf EU-Ebene eine europaweit verpflichtende Einführung vorsieht: Neu auf den Markt kommende Lkw-Modelle mit mehr als 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht müssen ab 2022 und generell alle neu zugelassenen Lkw (ebenfalls ab 3,5 Tonnen) ab 2024 mit solchen Systemen ausgerüstet sein.
Allerdings: Ältere Fahrzeuge würden dann weiterhin ohne den elektronischen Helfer fahren. Daher hat das Bundesministerium für Verkehr (BMVI) mit der „Aktion Abbiegeassistent“ ein Förderprogramm zur Nachrüstung der Bestandsfahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht ins Leben gerufen: Bis zu 1500 Euro (maximal 80 Prozent der Kosten) erhält, wer seinen Lkw nachrüstet.
ADAC Test: Nur 2-mal gut, aber 4-mal mangelhaft
Doch was können die aktuell angebotenen Systeme? Das hat der ADAC untersucht und sich neun Abbiegeassistenten verschiedener Hersteller angesehen, die über eine allgemeine Betriebserlaubnis verfügen und alle die Förder-Voraussetzungen technisch erfüllen. Im Vergleich zu einem 2019 durchgeführten Test der ersten Systeme dieser Art hat sich gezeigt: Technisch hat sich zwar einiges verbessert, aber nicht einmal die Hälfte der untersuchten Geräte arbeitet nach Ansicht des ADAC so gut und zuverlässig, dass sie einen echten Nutzen brächten. Vier Systeme stuften die ADAC Tester sogar als "mangelhaft" ein.
ADAC testet unterschiedlichste Szenarien
Wie kann das sein? Die Anforderungen des BMVI an die Funktionalität der Systeme fallen relativ gering aus. Doch dem ADAC war es wichtig, darüber hinausgehend möglichst viele verschiedene Situationen zu testen, die im Alltag üblich sind. Und das nicht nur auf einem abgesperrten Testgelände, sondern auch im realen Verkehr. Reagieren die Geräte auch auf Jogger, Inlineskater oder Rollstuhlfahrer? In welchem Abdeckungsbereich sprechen sie an, und funktionieren sie auch bei Dunkelheit? Was passiert, wenn sich parkende Autos oder Büsche zwischen Lkw und Radler befinden?
Und: Gibt es Fehlwarnungen? Letzteres ist wichtig für die Akzeptanz des Fahrers: Piept das System bei jedem Poller, wird er nicht mehr auf die Technik vertrauen – und womöglich auch im Ernstfall von einem Fehlalarm ausgehen.
Baum oder Radler? Nicht alle Assistenten wissen das
Eine besonders hohe Zahl von Fehlwarnungen hatten Systeme, die nicht klassifizieren, also nicht zwischen Objekten (Bäume, Verkehrsschilder) und ungeschützten Verkehrsteilnehmern unterscheiden können. Das haben die "Falsch-Positiv-Tests" des ADAC ergeben. Zudem zeigte sich, dass keiner der getesteten Assistenten einen Radfahrer zuverlässig erkennen kann, wenn sich zwischen der Radfahr- und der Lkw-Spur Hindernisse, wie etwa parkende Fahrzeuge, befinden. Eine automatische Notbremsfunktion, die selbstständig eine Bremsung einleitet, sobald eine Kollision unvermeidbar ist, wird bei den Nachrüstsystemen nicht angeboten. Sie warnen lediglich.
Einzelbewertungen: Was die Systeme können
Gute Systeme warnen nie fälschlicherweise
Der Testsieger von EYYES produzierte keine Fehlmeldungen, konnte Radfahrer auch noch in einem Abstand von sechs Metern zum Lkw orten, und die optische Rückmeldung an den Fahrer ist grundsätzlich leicht und verständlich. Mit einer Ausnahme: Verwirrend ist, dass bei jeder Aktivierung des Systems im realen Straßenverkehr erst mal die beiden Dreiecke des Signalgebers aufleuchten. Zudem ist der Testsieger am teuersten.
Die Lkw-Abbiegeassistenten mit der 2 oder 3 vor dem Komma der Testnote zeichnet aus, dass sie statische Objekte und ungeschützte Verkehrsteilnehmer unterscheiden können und nie fälschlicherweise warnten. Außerdem wurde der ungeschützte Verkehrsteilnehmer bei nahezu allen Geschwindigkeiten, Abständen und Testvarianten rechtzeitig erkannt und der Lkw-Fahrer mittels einer differenzierten optischen und akustischen Signalisierung darauf aufmerksam gemacht.
4-mal "mangelhaft": Das sind die Ursachen
Die als "mangelhaft" bewerteten Abbiegeassistenten generierten eine hohe Anzahl an Fehlwarnungen und verfügen über einen kleinen Sichtbereich, wodurch der Lkw-Fahrer häufig nicht bzw. nicht rechtzeitig gewarnt wurde. Zudem erkennen die Systeme von Rosho, Axion und Dometic Radfahrer nur, wenn sie den Lkw überholen, jedoch nicht, wenn beide nebeneinander fahren oder der Lkw den Radfahrer überholt.
Und warum funktioniert das System von Continental nur, wenn der Blinker gesetzt ist? Perfekt ist das nicht. Hinzu kommt, dass der Assistent von Conti bei einer Spiegelarmhöhe von unter zwei Metern nicht an diesem montiert werden darf und eine aufwendige Anbringung nötig macht. In der Regel betrifft das kleinere Lkw bis 7,5 Tonnen. Weil das System auch am Testfahrzeug des ADAC nicht angebracht werden durfte, wurden die Versuche in diesem Fall mit einem 18-Tonner durchgeführt. Ergebnis: "mangelhaft".
Bei der Bewertung gab es einen Durchschlageffekt: Hat ein System weniger als 20 Prozent der statischen oder dynamischen Tests meistern können, wurde es abgewertet. Es nützt schließlich keinem etwas, wenn die Technik nur in einem Bruchteil der möglichen Unfallszenarien warnt.
Das Gesamtergebnis mit den Einzelkriterien
Fazit: Nur gute Systeme retten Leben
Es ist sehr begrüßenswert, wenn Lkw mit Nachrüstsystemen sicherer gemacht werden und sich dadurch schlimme Unfälle verhindern lassen. Der ADAC befürwortet deshalb die „Aktion Abbiegeassistent“ des BMVI. Allerdings muss die Technik dabei auch zuverlässig funktionieren. Fuhrparkleiter sollten sich daher unbedingt an den ADAC Testergebnissen orientieren, bevor sie sich für einen Anbieter entscheiden – es gibt gute Systeme. Für Elektroschrott ist das investierte Geld aber definitiv zu schade.
Was die Nachrüstlösungen kosten
Die Kosten für die Systeme fallen sehr unterschiedlich aus und reichen für das Testfahrzeug des ADAC von 966 bis 3690 Euro. Dazu addieren sich noch zusätzliche Materialkosten für den Einbau sowie die Montagekosten durch eine Fachwerkstatt: Zwischen fünf und sieben Stunden sind je nach Fahrzeug und Erfahrung der Werkstatt für den Einbau nötig. Unter dem Strich machte das in unserem Fall insgesamt 2100 Euro für das günstigste System (H3M Truck!Warn Deluxe) und rund 4650 Euro für das teuerste (Eyyes Taset001). Natürlich können die Kosten je nach Werkstatt variieren.
ADAC Empfehlungen
An den Gesetzgeber:
Die künftigen europaweiten Vorgaben (UNECE-Regelung) sollten auch Tests im realen Verkehr beinhalten, um die Häufigkeit von Fehlauslösungen zu bewerten.
Nicht nur für neue Lkw, auch für den Bestand sollten Regulierungen geschaffen werden.
Wegen des hohen Lkw-Bestands sollte die Summe der Fördermittel für nachgerüstete Abbiegeassistenten ausgeweitet werden.
Die technischen Anforderungen für förderfähige Lkw-Abbiegeassistenten sollten hochgesetzt werden. Nur so fließen die Fördermittel in die Systeme mit dem höchsten Unfallvermeidungspotenzial.
An die Hersteller:
Für ein höheres Unfallvermeidungspotenzial im realen Straßenverkehr sollte der Abdeckungsbereich über die Vorgaben des BMVI hinausgehen.
Abbiegeassistenten sollten den ungeschützten Verkehrsteilnehmer trotz einer Sichtverdeckung (z.B. parkende Fahrzeuge) zuverlässig detektieren können.
Fehlauslösungen müssen reduziert werden – ohne dabei die Wirkung einzuschränken. So sollten die Systeme den Radfahrer nicht nur erkennen, wenn er den Lkw überholt, sondern auch wenn beide mit gleicher Geschwindigkeit nebeneinanderfahren oder der Lkw den Radfahrer überholt.
Sobald das Assistenzsystem nicht mehr voll funktionstüchtig ist, sollte dies dem Lkw-Fahrer signalisiert werden.
Informationen an den Fahrer sollten auf ein Minimum reduziert, die Bedienung klar und intuitiv gestaltet werden. Optische Warnungen müssen bei allen Sichtverhältnissen gut zu erkennen sein, dauerhafte akustische Signale nur eingesetzt werden, wenn ein Unfall unvermeidbar ist.
Tipps für Verbraucher und Fuhrparkbetreiber
Klassifizierende Systeme einbauen – sie entlasten den Fahrer und können feste Hindernisse von Fußgängern und Radfahrern unterscheiden.
Bauen Sie nur Systeme ein, die keine Fehlwarnungen (siehe Testergebnis) generieren. Von Abbiegeassistenten, die ausschließlich auf Basis von Ultraschallsensoren arbeiten, rät der ADAC daher ab.
Vor dem Kauf die Vor- und Nachteile der verbauten Technik erklären lassen, in welchen Situationen das System wie reagiert, was es sieht und was es übersieht.
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