Kampf um die Straße: Wir brauchen eine menschengerechte Stadt!
Autos, Fahrräder, E-Roller und Fußgänger brauchen Platz. Die Meter sind begrenzt, doch die Verkehrsmengen haben zugenommen. Das führt zu einer immer stärkeren Flächenkonkurrenz im Straßenraum. Es gibt Lösungsansätze, aber keine Blaupause, die sich von Stadt zu Stadt übertragen lässt. Jede Kommune muss ein eigenes Mobillitätskonzept entwickeln, das alle Teilnehmer berücksichtigt.
Eine Straße mit zwei Fahrstreifen ist in der Regel sechseinhalb Meter breit. Hinzu kommen Flächen für Fußgänger, Fahrradfahrer und parkende Autos. Die wenigen Meter sind hart umkämpft – denn es gibt immer mehr Pkw, Transporter und Elektro-Tretroller, die Fußgängern und Radfahrern das Leben schwer machen. Der Verkehr ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, der Platz auf der Straße ist aber derselbe geblieben. Die Flächenkonkurrenz in Ballungsräumen ist deshalb eine der großen Herausforderungen unserer Zeit.
Aber warum haben sich die Probleme mit dem zunehmenden Verkehr in den Ballungsgebieten in den vergangenen Jahren vergrößert? Die Antwort ist etwas komplexer, als man denkt. So sorgt beispielsweise der Mangel an bezahlbarem Wohnraum für mehr Verkehr. Gerade junge Familien und einkommensschwache Haushalte können sich die hohen Mieten in der Stadt nicht mehr leisten und sind zunehmend gezwungen, ins Umland zu ziehen. Dadurch wachsen die Distanzen, die sie täglich auf dem Weg zur Arbeit zurücklegen müssen, und auch insgesamt nehmen die Pendlerzahlen zu. Zwei Drittel der Pendler nutzen dabei noch das Auto, für das oft attraktive Alternativen fehlen.
Auch das neue Carsharing-Angebot im öffentlichen Raum sorgt zunächst für mehr Pkw in den Innenstädten. Denn Carsharing lässt sich meist nur in den Stadtkernen nutzen – kaum einer schafft also infolgedessen sein eigenes Auto ab. Verschärft wird die Situation durch Bike-Sharing-Angebote und E-Tretroller, die für teils katastrophale Zustände auf den Bürgersteigen sorgen. Immer wieder kommt es hierbei zu Unfällen mit Radfahrern und Fußgängern.
Das alles eröffnet in den Ballungsräumen einen „Verteilungskampf“ auf der Straße: Jeder gegen jeden! Manche Experten sprechen sogar schon von einer Endsozialisierung im Verkehr.
Doch dann kam Corona
Staus auf den Autobahnen, verstopfte Stadtstraßen und volle Busse und Bahnen: seit Mitte März kaum zu finden. Die Corona-Pandemie hat das Mobilitätsverhalten der Menschen verändert, viele arbeiten im Homeoffice. Die Straßen sind so leer wie zuletzt bei der Ölkrise. Zudem sind die Leistungen des ÖPNV teils drastisch reduziert worden und Sharing-Dienste haben ihren Betrieb heruntergefahren.
Eines hat jedoch vielerorts durch Corona-bedingte Umsteiger, die sich in Bus und Bahn nicht mehr sicher fühlen, zugenommen: der Rad- und Fußverkehr. Doch damit kommt es bereits zu neuen Problemen: Aufgrund mangelnder oder zu klein dimensionierter Geh- und Radwege können Fußgänger und Fahrradfahrer die neuen Abstandsregelungen nicht überall einhalten.
Temporäre Radwege kritisch beobachten
Berlin teilt deswegen die Straßenflächen in Zeiten von Corona neu auf, überall in der Hauptstadt entstehen Pop-Up-Radwege. Auch in Köln und Düsseldorf sind solche temporären Radfahrstreifen in der Diskussion. Hierbei ist es jedoch wichtig, dass die Verkehrsräume nicht vorschnell umverteilt werden. Bei jeder Straße muss einzeln geprüft werden, ob ein temporärer Radfahrstreifen möglich und zum Schutz von Radfahrern notwendig ist. Die Flächenaufteilung sollte sich am Bedarf orientieren. Dazu müssen bestehende Radnetz- und Regelpläne stärker als früher berücksichtigt werden.
Außerdem müssen alle temporären Radwege von Anfang an durch eine gute Evaluation begleitet werden, sodass eine datenbasierte Entscheidungsgrundlage geschaffen wird. Im Zweifel müssen Entscheidungen zurückgenommen werden. Idealistische Gründe dürfen nicht zu unnötigen Staus und Umweltbelastungen führen.
Während des akuten Lockdowns hat sich die Flächensituation auf der Straße entspannt, aber mit den Lockerungen im Mobilitätsbereich werden auch diese Probleme wieder zurückkehren. Daher ist es wichtig, folgende Schlussfolgerungen aus der Corona-Krise zu ziehen:
Den Digitalisierungsschub und digitale Technologien für die zukünftige Mobilität stärker nutzen (Einsatz von Echtzeitdaten)
Vertrauen in den ÖPNV durch Hygiene- und Raumkonzepte zurückgewinnen – ansonsten bleibt der ÖPNV auch in der Zeit nach Corona der große Verlierer
Fuß- und Radverkehr stärker in der Verkehrsplanung berücksichtigen
Dass Punkt drei besonders relevant ist, spiegelt sich auch in Umfragen des ADAC wider: Viele Radfahrer sind mit dem Verhalten der Autofahrer unzufrieden. Andersrum beurteilen sowohl Autofahrer als auch Fußgänger das Verhalten der Radfahrer negativ. Und: Sogar untereinander kritisieren sich Fahrradfahrer. Beim Thema Flächenkonkurrenz spielen die Radfahrer somit eine zentrale Rolle. Hier muss etwas getan werden!
London, Amsterdam, Oslo – diese Städte zeigen, wie es gehen kann
Ein paar weiße oder gelbe Striche auf die Straße malen – wie man in manchen Städten die Strategie auf den Punkt bringen kann – reicht da nicht aus. Es braucht eine systematische Herangehensweise und die Bereitschaft, Geld in die Hand zu nehmen. Nur so kann eine sichere Infrastruktur geschaffen werden, um langfristig mehr Menschen auf das Fahrrad zu bekommen. Mit der Initiative zum Radgesetz NRW der Landesregierung ist der erste Schritt in die richtige Richtung getan. Mehr aber noch nicht.
In London hat man auf den Hauptverkehrsstraßen konsequent die öffentlichen Stellplätze für Autos durch Radfahrstreifen, Busspuren oder breitere Fußwege ersetzt. Zudem wurden in der Stadt Fahrradverleihstationen eingerichtet und gut sichtbare Fußgängerrouten ausgeschildert (siehe Fotos). Amsterdam will den ruhenden Verkehr im öffentlichen Raum radikal aus der Kerninnenstadt verdrängen. So soll die Zahl der Anwohnerparkberechtigungen im Zentrum um jährlich 1500 reduziert werden. Oslo möchte den CO2-Ausstoß bis 2030 um 95 Prozent senken, auf lange Sicht soll die Innenstadt deshalb gänzlich autofrei werden.
Steckbrief Prof. Dr. Roman Suthold
Prof. Dr. Roman Suthold (48) ist seit 2004 beim ADAC und seit 2006 Leiter des Fachbereichs „Verkehr und Umwelt“ beim ADAC Nordrhein. Der gebürtige Kölner lehrt zudem als Honorarprofessor an der Hochschule Fresenius (Köln) zum Thema „Mobilitätsmanagement“ und ist als Lehrbeauftragter an der Hochschule Bochum („Verkehrssysteme und -konzepte“) tätig. Seine Spezialgebiete sind Mobilität in Ballungsräumen, kommunale Verkehrsplanung und Digitalisierung im Mobilitätsbereich.
Diese Beispiele zeigen, wie es gehen kann. Aber als Blaupause können sie nicht eins zu eins auf deutsche Städte übertragen werden. Vielmehr muss jede Kommune ein eigenes Mobilitätskonzept entwickeln, das die regionalen Gegebenheiten und Anforderungen berücksichtigt.
Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen
Klar ist bei all diesen ambitionierten Zielen auch, dass die Erreichbarkeit in den Innenstädten gewährleistet bleiben muss. Die Versorgung vor Ort benötigt Platz für Nutzfahrzeuge, Müllwagen und Busse. Konkret heißt das: 3,25 Meter Fahrstreifenbreite pro Richtung.
Wir brauchen ein Verkehrskonzept, das nicht nur bei pandemiebedingten Einschränkungen funktioniert, sondern langfristig die Bedürfnisse aller Verkehrsteilnehmer in den Fokus rückt. Der Ausbau der Radinfrastruktur sollte weniger über vielbefahrene Hauptverkehrsadern führen, sondern könnte über Fahrradstraßen in die Nebenstraßen verlagert werden. Damit wären Radfahrer nicht nur sicherer, sondern auch gesünder unterwegs, weil die Schadstoffbelastung in Nebenstraßen nachweislich geringer ist.
Dabei dürfen wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und alles auf ein Verkehrsmittel ausrichten, indem jetzt dogmatisch eine fahrradgerechte Stadt gefordert wird. Vielmehr brauchen wir einen Wandel weg von der autogerechten hin zur menschengerechten Stadt, in der die einzelnen Verkehrsträger ihre Stärken optimal ausspielen.
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