"Dass jede Firma ihre eigene Software schreibt, ist Quatsch"
Professor Markus Lienkamp über die Anfänge des autonomen Fahrens in den 1980er Jahren, die Probleme von Tesla mit dem Autopilot und sein Open-Source-Projekt mit Rennwagen und Personentransportern der TU München.
Vor einigen Jahren hieß es noch, dass der autonom fahrende Privat-Pkw in Deutschland schon bald, womöglich schon Mitte der 2020er-Jahre, Realität sein würde. Doch diesen Plan hat die deutsche Autoindustrie auf unbestimmte Zeit verschoben. Warum das so gekommen ist und wie man die Entwicklung beschleunigen könnte, das erklärt Markus Lienkamp, bis 2009 in der Forschung bei Volkswagen, heute Professor für autonomes Fahren an der TU München.
ADAC Redaktion: Herr Professor Lienkamp, ein von Ihrem Lehrstuhl entwickeltes autonomes Fahrzeug ist in München als Oktoberfest-Shuttle eingesetzt worden. Ist es so gut wie die Robotaxis von Waymo in San Francisco?
Prof. Markus Lienkamp: Wir haben uns mit der Wiesn eine komplizierte Situation ausgesucht und sind da ziemlich gut gefahren, wie uns alle bestätigt haben. Aber mir ist natürlich klar: Im Vergleich zu dem, was Google beziehungsweise Waymo ohne Sicherheitsfahrer in USA macht, war der Aufwand geringer.
Grundsätzlich hängt der Schwierigkeitsgrad vom Betriebsbereich ab. Auf breiten Straßen, tagsüber und nur bei schönem Wetter zu fahren ist einfacher, als im Stadtverkehr zur Rush Hour.
Was hat den "Betriebsbereich" Oktoberfest so kompliziert gemacht?
Im Umfeld des Oktoberfests gibt es immer wieder chaotische Verhältnisse. Teilweise waren hunderte Fußgänger auf der Straße unterwegs und liefen irgendwie kreuz und quer. Unser Fahrzeug hat sich trotzdem durchgekämpft.
Wie hat das funktioniert?
Das Auto muss signalisieren, dass es fahren möchte. Jedes Mal, wenn ein bisschen Platz war, ist es aufgerückt. Ganz langsam. Und dann ist es irgendwann auch durch die Fußgängermasse durchgekommen. Einfach durch das Fahrverhalten.
Sie haben beim Oktoberfest einen umgebauten VW Bus eingesetzt, den Sie EDGAR nennen. Was ist das Besondere an seiner Technik?
Das Besondere ist die Software, mit der wir das Auto steuern. Wir setzen auf den Open-Source-Ansatz, bei dem wir unsere Verbesserungen immer wieder in die IT-Community zurückspielen. Jeder kann mitmachen, jeder auf unserer Basis aufbauen. Dadurch ist die Geschwindigkeit wesentlich höher, als wenn wir es alleine machen. Diese Form der Zusammenarbeit ist unser Alleinstellungsmerkmal bei der Entwicklung des autonomen Fahrens.
Und wer ist das, der bei Ihnen mitmacht?
Forschungsteams, Universitäten, eine Firma in Japan, die finanziert wird vom japanischen Staat. Wir versuchen, möglichst viele Leute davon zu überzeugen, bei uns mitzumachen.
Deutsche Autohersteller, BMW, Audi, Volkswagen, Mercedes sind nicht dabei?
Wir haben zusammen mit zwei deutschen Herstellern einen Antrag auf staatliches Fördergeld gestellt. Wenn das Ministerium Mittel für unser Open-Source-Projekt bewilligt, wäre das ein sehr starkes Signal in Deutschland.
Aktuell wird bei geförderten Projekten der Softwarecode nicht veröffentlicht. Das drehen wir um: alles Open Source, alles nachvollziehbar.
Sie arbeiten schon lange am Thema, auch schon als Sie noch Entwicklungschef bei VW waren. Wie begann die Arbeit am autonomen Fahren?
Die Idee geht auf das amerikanische Verteidigungsministerium zurück. Es wollte den Transport von Fahrzeugen durch Krisengebiete automatisieren. Weil die amerikanische Rüstungsindustrie das nicht hinbekam, hat sich deren Forschungsagentur DARPA an Professor Diekmanns von der Universität der Bundeswehr in München gewandt.
Diekmanns hatte schon in den 80er Jahren eine S‑Klasse mit Radar für Längsregelung und Kamera für Querregelung aufgebaut und ist hunderte Kilometer damit über die Autobahn gefahren.
„Beim Wettbewerb 2004, eine Wüste in USA zu durchqueren, ist das beste Team etwa sieben Meilen weit gekommen.“
Prof. Markus Lienkamp
Den Amerikanern hat er dann geraten, einen Wettbewerb auszuschreiben, an dem Universitäten, Bastler, wer auch immer, teilnehmen können. Es wurde tatsächlich eine Million Dollar Preisgeld ausgelobt.
2004, beim ersten Wettbewerb in einer US-Wüste, ist das beste Team, glaube ich, etwa sieben Meilen weit gekommen. Da haben wir uns bei Volkswagen gesagt "das können wir auch" und haben einen autonomen VW Touareg für die Stanford Universität aufgebaut. 2005 haben wir die DARPA-Challenge damit gemeinsam gewonnen.
Wie ging es dann weiter?
2007 wurde der Wettbewerb für den öffentlichen Straßenverkehr ausgeschrieben, die sogenannte Urban Challenge. Wir haben bei Volkswagen drei VW Passats aufgebaut, für die Universität Karlsruhe, für die TU Braunschweig und für Stanford. Die drei haben den zweiten, fünften und siebten Platz gemacht. Die Amerikaner waren geschockt, dass die deutsche Technologie so gut ist.
„Letztlich ist daraus Waymo hervorgegangen, die die Entwicklung des autonomen Fahrens vorangetrieben haben. Alle anderen haben nicht an die Idee geglaubt.“
Prof. Markus Lienkamp
Und dann hat Google das Thema zusammen mit der Stanford University aufgegriffen. Alle anderen haben nicht an die Idee geglaubt. Letztlich ist aus diesen Wettbewerben Waymo hervorgegangen. Die Amerikaner wollten das Robotaxi unbedingt realisieren, während sich die Deutschen auf die Entwicklung besserer Assistenzsysteme konzentriert haben.
Worin sehen Sie die Stärke Ihres Lehrstuhls?
Wir beschäftigen uns intensiv mit dem Gesamtsystem des autonomen Fahrens. Wir wissen, wie man Algorithmen mit geringen Rechenzeiten entwickelt. Wir wissen, wie man einen Code stabil macht. Und wir können sehr schnell ohne Unfall fahren. Das haben wir im Motorsport gelernt, indem wir an Rennen für autonome Autos in den USA und Abu Dhabi teilnehmen.
Ist Ihre Software übertragbar auf jedes beliebige Fahrzeug?
Ja, klar. Das Auto muss man natürlich anpassen, weil die Sensorpositionen wahrscheinlich anders sind. Aber eigentlich ist es Quatsch, dass jeder seine eigene Software schreibt.
Dürfen Sie sagen, mit welchen Geldsummen Sie an der TU München zum autonomen Fahren operieren?
Wir haben die letzten drei Jahre ein Budget von ganz grob 8 Millionen Euro gehabt. Beim Förderantrag, den wir jetzt gestellt haben, geht es um 15 Millionen Euro.
Mit welchen Summen operiert Waymo?
Mit Milliarden, jedes Jahr.
Wie steht es beim autonomen Fahren um die deutsche Autoindustrie?
Die deutsche Industrie ist bei der Steuerung des Antriebs und bei der Sensorik sehr gut, bei der Software hat sie bisher zu wenig gemacht.
Allerdings sind die Rahmenbedingungen in den USA und Europa völlig andere: In Europa haben wir die so genannte Fremd-Zertifizierung. Das heißt, es gibt ein Gesetz und eine regierungsbeauftragte Organisation überprüft, ob der Autohersteller das Gesetz einhält. Wenn alle Gesetze eingehalten werden, wird freigegeben.
In den USA gilt das gleiche Gesetz, aber der Staat sagt: Liebe Firma, du überprüfst, ob du das Gesetz eingehalten hast. Und wenn du das eingehalten hast, dann sagst du uns Bescheid. Wir kontrollieren das nicht. Das machst du selbst. Nur wenn was passiert, dann gucken wir uns das mal ganz genau an.
Im Oktober hat Tesla sein Cybercab vorgestellt, einen Zweisitzer ohne Lenkrad und Pedale, ausgelegt fürs autonome Fahren. Was halten Sie davon?
Tesla hat in Los Angeles eine gute Show mit dem Cybercab hingelegt. Aber es ist nur ein kurzes Stück auf einer vordefinierter Strecke mit niedriger Geschwindigkeit gefahren.
Eine Aussage, was das Cybercap wirklich kann, gab es nicht. Man könnte trotzdem einen Schluss aus dem Event ziehen: Elon Musk kann das autonome Fahren nicht auf die bestehende Tesla-Flotte ausrollen, wie er das immer behauptet hat. Er braucht dafür möglicherweise andere Autos, eben so eines wie das Cybercab.
Warum?
Weil nur Kameras als Sensorik nicht ausreichen. Schon Level 3 funktioniert nicht mit einer einzigen Sensor-Modalität – zusätzlich zur Kamera braucht es mindestens Radar. Denn auch mehrere Kameras, die das Gleiche sehen, bieten keine Redundanz, also keine ausreichende Ausfallsicherheit. Das Fahrzeug von Waymo hat über 20 Sensoren.
Elon Musk versucht es mit minimaler Hardware, also mit minimalen Kosten, und will sehr viel über Software lösen. Ich sehe nicht, wie das gelingen soll. Aber warten wir mal ab. Der Mann ist ja immer für eine Überraschung gut. Musk hat auch kein Problem damit, einem Top-Software-Entwickler eine halbe Million Dollar pro Jahr an Gehalt zu zahlen. Das wäre in einer deutschen Firma undenkbar.
Wie gefährlich ist der Verzicht auf mehrfache Absicherung einzelner Systeme? Kann man das Risiko beziffern?
Bei fehlender Redundanz reicht ein einziger Fehler für einen Unfall. Am Anfang des autonomen Fahrens – da sind wir wieder bei Prof. Diekmanns in den 80er Jahren – hätte es alle zehn Kilometer einen Unfall gegeben, wenn der Fahrer nicht eingegriffen hätte.
Heute, 40 Jahre später, sprechen wir von einem vertretbaren Risiko, wenn es auf 150 Millionen Kilometer einen Toten gibt. Manche Leute fordern sogar, ein tödlicher Unfall dürfe höchstens alle 500 Millionen Kilometer vorkommen, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden.
Vielen Dank für das Gespräch.