Frédéric Bruder: "Es gibt genug medizinisches Personal. Die Frage ist, ob es richtig eingesetzt wird"

Frederic Bruder im Interview
Frédéric Bruder leitet die ADAC Luftrettung© ADAC/Theo Klein

Im Interview spricht der Chef der ADAC Luftrettung Frédéric Bruder über die Sorgen vor Notfallstation-Schließungen, Kostendruck im Gesundheitssystem sowie die Chancen der Telemedizin. Und er erklärt, warum ihm die mangelhafte Gesundheitsbildung in der Bevölkerung Sorgen macht.

ADAC Redaktion: Viele Menschen haben die Sorge, dass die Politik die flächendeckende Versorgung mit Notfallstationen an Krankenhäusern nicht aufrechterhalten kann. Teilen Sie diese Sorge?

Frédéric Bruder: Gute Notfallversorgung ist ein sehr wichtiges Gut unserer Gesellschaft und macht unser Land lebenswert. Sie sorgt dafür, dass wir uns wohl und sicher fühlen. Die Menschen brauchen also Anlaufstellen für ihre Nöte. Egal ob bei einer Rettungsleitstelle, in der zentralen Notaufnahme einer Klinik, im Internet oder auf einem anderen Weg.

Ein Risiko für die medizinische Versorgung entsteht erst, wenn Patienten keine Alternativen mehr haben. Genau diese schaffen wir, zum Beispiel mit dem Einsatz innovativer Technologien.

Man kann also die Zahl der Notfallstationen senken, ohne dabei die Versorgung zu gefährden?

Unter der Voraussetzung, dass es verfügbare neue Angebote gibt: ja. Entweder durch schon bestehende Strukturen, wie eine Hausarztpraxis oder ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ), das für Notfälle ausgestattet ist. Zudem wird der Rettungsdienst eine elementare Rolle spielen.

Zur Person

Frédéric Bruder ist seit 2012 Geschäftsführer der gemeinnützigen ADAC Luftrettung. Sie betreibt derzeit 37 Stationen, an denen insgesamt über 50 Helikopter stationiert sind. Vor seinem Amtsantritt bei der ADAC Luftrettung arbeitete er in verantwortlichen Positionen bei der DRF Stiftung Luftrettung und bei der Lufthansa.

Bei so vielen Optionen: Woher sollen Erkrankte oder Verletzte wissen, an wen sie sich wenden sollen?

Natürlich brauchen wir überall kompetentes und empathisches Personal, das entscheiden kann, wer in welches System gehört. Wichtig ist: Wir müssen die Menschen ernst nehmen.

Am Ende geht es immer um die Dringlichkeit, die ein Mensch verspürt. In vielen Fällen kann der Weg zum Haus- oder Facharzt führen. Je dringlicher der Fall wird, kann es der Gang in die Notaufnahme oder eine Beratung am Telefon sein. Dafür gibt es heute in Deutschland zwei Angebote: einerseits die 116 117 für nicht lebensbedrohliche, akut medizinische Fälle. Und in lebensbedrohlichen Situationen die 112. Wichtig ist, dass alle Dienste eine vergleichbare medizinische Ersteinschätzung durchführen.

Die Gesundheitskompetenz in der breiten Öffentlichkeit ist mangelhaft

Frédéric Bruder, Geschäftsführer ADAC Luftrettung

Viele wählen aber die 112 – oder fahren sofort ins nächste Krankenhaus.

Das liegt meiner Meinung nach an mangelnder Gesundheitskompetenz in der breiten Öffentlichkeit. Das Thema muss schon in den Schulen in den Vordergrund gestellt werden. Bei Erster Hilfe, Wiederbelebung oder Ernährung und beim Wissen um das richtige Verhalten, wenn ich selbst einen Notfall habe, sehe ich großen Nachholbedarf.

Gibt es genügend Personal, das in Notfällen kompetent helfen kann?

Diese Menschen gibt es, die Frage ist nur, ob sie immer richtig eingesetzt werden. Es muss uns in Zukunft gemeinsam mit allen Beteiligten gelingen, die richtige Antwort auf die eingehenden Anfragen zu geben. Der Patient stellt die Frage, das System liefert die Antwort.

Denn nicht immer braucht es den Notarzt, nicht immer braucht es den Rettungsdienst. Neuere Möglichkeiten ergänzen die bisherigen Strukturen. Ein Telenotarzt steht dem Rettungsdienst vor Ort zur Verfügung, berät und unterstützt. In Summe gibt es bereits heute mit den einzelnen Elementen des Boden- und Luftrettungsdienstes kompetentes und handlungsfähiges Personal. Wir müssen es aber bedarfsorientiert einsetzen.

Gibt es diese Form der notärztlichen Unterstützung aus der Ferne schon?

Ja, die ADAC Luftrettung hat in diesem Jahr die erste Telenotarzt-Zentrale am Standort Gelnhausen in Hessen eröffnet. Weitere werden folgen. Darüber hinaus gibt es bereits Leitstellen, die den Anrufenden im Fall einer Reanimation telemedizinisch assistieren.

Ein Beispiel: Sie finden auf der Straße einen leblosen Menschen, wählen die 112. Der Leitstellen-Disponent erklärt Ihnen über Ihr auf Lautsprecher gestelltes Mobiltelefon, wie Sie bis zum Eintreffen der Rettungskräfte bei der Wiederbelebung helfen können.

Jeder von uns kann ein Menschenleben retten, die Zeit überbrücken, bis professionelle Hilfe eintrifft. Es geht nicht darum, Menschen vor Ort zu heilen, sondern darum, den Tod und schwere Folgeschäden zu verhindern.

Und wenn der Fall dann doch schlimmer ist: Ist dann schnell eine Notärztin oder ein Notarzt vor Ort? Oder verliert man unter Umständen wichtige Zeit?

Natürlich wird immer Hilfe geschickt. Und in einem komplexen Fall – etwa bei einem Unfall, bei dem jemand zwischen zwei Autos eingequetscht wurde – wird sofort die komplette erforderliche Hilfe entsendet.

Frederic Bruder im Interview mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (r.) im Gespräch mit Frédéric Bruder (l.)© ADAC Luftrettung/Thomas Ecke

Die Reformpläne von Gesundheitsminister Lauterbach sehen eine stärkere Rolle von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern vor. Was halten Sie davon?

Das ist absolut richtig und längst überfällig. Die medizinische Fachwelt debattiert seit geraumer Zeit erforderliche Reformen der Notfallversorgung. Wir freuen uns, dass die erforderlichen Anpassungen jetzt vom Bundesgesundheitsministerium zur Diskussion gestellt wurden.

Ein Notfallsanitäter kann auf der Basis seiner dreijährigen Ausbildung bereits heute bei vielen Einsätzen eine adäquate Versorgung gewährleisten und dafür sorgen, dass der Notarzt vor allem für komplexe und lebensbedrohliche Einsätze da ist.

Reicht diese Stärkung schon aus, um die medizinische Notfallversorgung in der Fläche zu sichern?

Es muss mehr dieser Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter mit höherer Kompetenz in der Peripherie geben. Außerdem können zusätzlich qualifizierte Gemeinde-Notfallsanitäterinnen oder Notfallsanitäter eingesetzt werden. In einzelnen Rettungsdienstbereichen Deutschlands wird dieses Konzept bereits erfolgreich praktiziert.

Und auch hier ist bei Bedarf eine telemedizinische Unterstützung möglich. Bereits in der Vergangenheit gab es in Deutschland vergleichbare Systeme einer Gemeindeschwester als wichtigen Bestandteil der ambulanten Versorgung. Ich bin der Überzeugung, dass viele Menschen im Notfall das Bedürfnis haben, mit solchen Menschen Kontakt zu haben.

Die ADAC Luftrettung ist auf dem Arbeitsmarkt besonders interessant, weil Hubschrauber-Dienste spannend und attraktiv sind.

Frédéric Bruder

Gibt es genug Menschen, die diesen Job machen wollen?

Wir haben eine Nachwuchsherausforderung. Es geht darum, diese Jobs attraktiv zu halten, Kompetenzen hochzuhalten. Als ADAC Luftrettung sind wir auf dem Arbeitsmarkt besonders attraktiv, weil die Hubschrauber-Dienste spannend und abwechslungsreich sind. Notärzte und Notfallsanitäter bekommen hier in einer relativ kurzen Zeit einen sehr, sehr hohen Erfahrungsschatz, weil der Hubschrauber häufig zu komplexeren Einsätzen alarmiert wird.

Und wir investieren wahnsinnig viel in Training, Aus- und Fortbildung. Zum Beispiel in unsere ADAC HEMS Academy, wo wir sowohl unsere Piloten, als auch das medizinische Personal intensiv trainieren. Das so ausgebildete Personal kann nicht nur im Rettungshubschrauber eingesetzt werden, sondern auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens, zum Beispiel in Notaufnahmen.

Welche Rolle spielen die ADAC Rettungshubschrauber?

Bei Notfällen ermöglichen sie sehr oft die schnellste Hilfe für den Patienten. Das ist sogar kostengünstiger, als man auf den ersten Blick denken würde. Denn ein Hubschrauber-Standort kann das Einsatzgebiet von drei bis vier, teilweise sogar sechs bodengebundenen Notarztstandorten bedienen. Schließlich kann er eine viel größere Fläche abdecken.

Aber bei 60 Prozent unserer Einsätze haben wir keinen Patienten an Bord, sondern bringen Ärztin oder Arzt zum Einsatzort. In Zukunft könnten wir diesen Zubringerdienst sogar noch effizienter darstellen: mit dem Multikopter.

Sie haben zwei dieser neuartigen, elektrisch betriebenen Fluggeräte bestellt, die Rettungspersonal zu ihren Einsatzorten bringen, aber keine Verletzten transportieren können. Was haben Sie vor?

Zunächst einmal wollen wir Forschungs- und Pionierarbeit leisten. Wir waren die Ersten, die vor über 50 Jahren einen Rettungshubschrauber in den öffentlich-rechtlichen Dienst gestellt haben. Nun ergibt sich weiteres Verbesserungspotenzial für die Notfallversorgung durch neue Technologien.

Nach intensiven Vorarbeiten planen wir, Ende 2024 oder Anfang 2025 in den Testbetrieb zu gehen – in Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz und in Dinkelsbühl in Bayern. Die Multikopter werden unsere Hubschrauber aber keinesfalls ersetzen, sondern eine Ergänzung zum aktuellen Notfallsystem sein.

Sie haben schon jetzt eine Option auf weitere Multikopter mit dem Hersteller vereinbart. Welche Hürden müssen für den Regelbetrieb noch genommen werden?

Zunächst muss die Batterie besser werden, die Reichweite reicht noch nicht aus. Auch die Nutzlast muss noch höher werden, schließlich müssen wir einiges an Gerät zum Einsatzort mitnehmen. Zudem muss auch ein Nachtbetrieb für den Rund-um-die-Uhr-Betrieb möglich sein. Aber das lässt sich mittelfristig lösen.

Ein großes Thema im Gesundheitssystem: die hohen Kosten. Wie gehen Sie damit um?

Der Kostendruck ist im Rettungsdienst wie überall sonst auch spürbar. Bei unseren Verhandlungen mit den Krankenkassen wird mit enormer Akribie auf jeden Einzelposten geschaut. Und das, obwohl die Luftrettung in Deutschland bei einem Gesamtbudget von 300 Millionen Euro und rund 100.000 Einsätzen im Jahr sehr effizient ist.

Was bei vielen Sparbemühungen aus dem Blick gerät: Wir müssen auch den volkswirtschaftlichen Nutzen sehen. Nehmen Sie einen Schlaganfall-Patienten, dem dank Helikopter-Einsatz schnell geholfen werden kann. Der hat eine gute Chance, wieder vollständig zu genesen, wieder zu arbeiten, wieder Steuern zu zahlen. Und wenn Sie die 3000 Euro, die unser Einsatz im Durchschnitt kostet, gegen diesen Nutzen – neben der Vermeidung menschlichen Leids – in die Waagschale werfen, dann sehen Sie die Vorteile für die Gesellschaft.

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Immer wieder ist von einer drohenden Pleitewelle bei Krankenhäusern die Rede. Welche Folgen hätte es, wenn dieses Szenario eintritt?

Bund und Länder arbeiten aktuell gemeinsam an Maßnahmen, um die Krankenhäuser finanziell zu stärken und zu entlasten. Die potenziellen Konsequenzen einer Krankenhausschließung könnten jedoch vielfältig sein. Denken Sie nur an die Beschäftigten, also das Krankenhauspersonal.

Und für uns besonders wichtig: Was passiert mit den Menschen in der Region? Sie brauchen Anlaufstellen, bei denen sie in ihrer gesundheitlichen Not Hilfe bekommen. Deshalb müssen für diesen Fall alternative Angebote her. Das muss angegangen werden, und dafür gibt es auch Pläne.

Bei einigen können wir uns als ADAC Luftrettung aktiv einbringen. Die Expertise aus über 50 Jahren Luftrettungsdienst und fast 1,3 Millionen Einsätzen bringen wir in die Diskussion um die zukünftige Ausgestaltung der Notfallversorgung mit ein. Unsere Innovationsprojekte wie der Multikopter sind ein weiterer Baustein. Der Einsatz von Telenotärzten ergänzt bereits heute den Rettungsdienst.

Die Sorgen, dass die Pläne von Herrn Lauterbach nicht funktionieren, sind bei Betroffenen allerdings groß.

Das ist eine große Kommunikationsaufgabe. Und neben der Kommunikation müssen Lösungen existieren. Das wird nicht ohne Versuch und Irrtum gehen, und es wird auch nicht eine Lösung für jede Situation geben.

Wie steht es um die bürokratische Belastung Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Mir geht es weniger um Bürokratie als um Standardisierung. Denn die Luftrettung ist Ländersache, und heute gibt es für jedes Bundesland unterschiedliche IT-Systeme, jedes Bundesland dokumentiert anders. Das können wir effizienter machen.

Ein etwas makabres Beispiel: Wir haben einen Hubschrauber in Fulda. Für ihn brauchen wir drei verschiedene Schriftsätze, um den Tod zu erklären. Denn in Bayern, Hessen und Thüringen muss das Ableben eines Menschen anders dokumentiert werden. Wir können damit leben, dass wir viel ausfüllen müssen. Aber warum muss es überall anders sein?

Ein weiteres Problem: Jedes Bundesland legt allein fest, welche Luftrettungs-Standorte es haben will. Das führt dazu, dass es in Halle in Sachsen-Anhalt und Leipzig in Sachsen jeweils einen Standort gibt. Dazwischen liegen keine 30 Kilometer. Ähnlich bei Mannheim und Ludwigshafen, da ist nur ein Fluss dazwischen – und eine Bundesland-Grenze. Solche Entscheidungen führen zu erheblichen Effizienzverlusten und können Einfluss auf die medizinische Versorgung im Notfall haben.