ADAC Test: Automatisiertes Fahren kann gefährlich werden
Die Industrie verspricht, dass Autofahren eines Tages richtig bequem wird. Doch dann müssen andere Sicherheitskonzepte eingebaut werden – so das Ergebnis von ADAC Tests. Aber auch schon heute können Out-of-Position-Haltungen erhebliche Verletzungen mit sich bringen.
Veränderte Sitzpositionen erfordern neue Konzepte für Rückhaltesysteme
ADAC Crashtests mit liegenden Insassen und verdrehten Sitzen
Schon heute: Füße auf dem Armaturenbrett sind lebensgefährlich
Der Traum vom vollautomatisierten Fahren: Mit einem selbstfahrenden Auto eröffnen sich für den Fahrer und die Passagiere völlig neue Möglichkeiten. So zeigen diverse Fahrzeugstudien, wie sich der Pkw zum Büro oder zu einer Ruhe-Lounge umfunktionieren ließe. Man sieht Insassen, die mit einem Laptop Büroarbeiten erledigen, mit umgedrehten Sitzen fröhlich Karten spielen oder sich weit zurückgelehnt ausruhen und schlafen.
Eine schöne neue Welt – zumindest in der Theorie. Doch ist das mit den aktuellen Sicherheitskomponenten denn überhaupt realistisch? Der ADAC hat es getestet.
Neue Sitzpositionen, alte Systeme: Passt das?
Mit den veränderten Sitzpositionen stellen sich entscheidende Fragen: Kann ein herkömmlicher Sicherheitsgurt den Insassen auch bei quer zur Fahrtrichtung eingestellten Sitzen ausreichend schützen? Passen veränderte Sitzpositionen noch mit den Auslösezeiten der Airbags zusammen? Können diese den Zusammenprall der Insassen mit harten Fahrzeugstrukturen wie dem Lenkrad, der A- oder der B-Säule auch weiterhin verhindern? Oder sind womöglich völlig neue Konzepte für den Insassenschutz nötig?
Das Testverfahren
Um untersuchen zu können, wie sich die Insassenbelastungen aufgrund einer liegenden oder gedrehten Sitzposition verändern, führten die ADAC Ingenieure 18 Schlittenversuche und einen Fahrzeugcrash durch.
Schlittenversuche: Bei Schlittenversuchen wird eine Plattform nach dem vorgegebenen Crashimpuls entlang der Anlaufspur beschleunigt und mittels einer Hydrobremse schlagartig verzögert. Durch die Verdrehung des Stahlgestells auf dem Schlitten können die unterschiedlichen Drehwinkel des Sitzes um die Hochachse in kürzester Zeit realisiert werden. Bis auf einen Gurt mit Gurtstraffer und Gurtkraftbegrenzer kamen keine weiteren Rückhaltesysteme wie Airbags zum Einsatz.
Euro NCAP Crash: Um den Einfluss von festen Fahrzeugstrukturen und Rückhaltesystemen bei einer liegenden Sitzposition zu untersuchen, wurde zusätzlich ein Fahrzeugcrash bei 64 km/h mit Front- und Seitenairbags durchgeführt. Der Fahrer-Dummy nahm eine zurückgelehnte Sitzposition ein (ca. 45°), während der Beifahrer die Füße auf dem Armaturenbrett ablegte. Diese Sitzhaltung des Beifahrers kann aktuell oft auf längeren Fahrten z.B. in den Urlaub beobachtet werden und wird als "Out-of-Position" bezeichnet.
Die Schlittenversuche
1. Testszenario: Fahrer in liegender Position
Der Versuch: Wie stark steigt das Verletzungsrisiko an, wenn der Fahrer nicht mehr selbst lenkt und Gas gibt, sondern sich im Sitz zurücklegt? Dafür wurde die Sitzlehne um 45° gekippt. Damit der Dummy dann aber nicht unter dem Gurt hindurch rutscht ("Submarining"), wurde eine leicht ansteigende Rampe in der Sitzfläche verbaut.
Das Ergebnis: Die Auswertung zeigt, dass sich der Oberkörper in diesem Unfallszenario sehr stark um den Gurt windet. Insgesamt steigen die Belastungen der Wirbelsäule erheblich an. Die Kraft, die auf einzelne Wirbel einwirkt, ist doppelt so hoch im Vergleich zur aufrechten Sitzposition. Eine derart hohe Stauchung der Wirbelsäule (von oben nach unten) kann irreparable Verletzungen im unteren Bereich verursachen.
2. Insasse quer zur Fahrtrichtung sitzend
Versuch: Was passiert, wenn ein Insasse nicht nach vorn gerichtet, sondern quer zur Fahrtrichtung sitzt? Denn auch solche Sitzpositionen wären ja in Zukunft denkbar. Für diesen Versuch wurde der Sitz auf dem Schlitten um 90° gedreht und ein spezieller Dummy eingesetzt, der über die entsprechende Sensorik und Biofidelität verfügt, um Verletzungsrisiken auch durch eine seitliche Kollision zu erfassen.
Ergebnis: Im Vergleich zu einem normalen Euro NCAP Seitencrash mit einem frontgerichtetem Sitz treten sehr viel höhere Belastungen an Kopf und Nacken auf. Zudem schneidet der 3-Punkt-Gurt in seitlicher Sitzkonstellation stark in den Hals ein. Der Versuch lässt erkennen, dass der Fahrzeugsitz kaum noch eine Stütze für den Insassen darstellt. Zudem werden die Extremitäten so stark in Bewegung versetzt, dass es zu schmerzhaften Kollisionen mit harten Fahrzeugstrukturen kommen würde.
3. Insasse rückwärts sitzend
Versuch: Der Sitz wird um 180° gedreht und mit einem aufrecht sitzenden Dummy durchgeführt.
Ergebnis: Die Schlittenversuche in rückwärtsgewandter und aufrecht sitzender Position zeigten, dass hier ein 3-Punkt-Gurt (ohne Gurtstraffer und Gurtkraftbegrenzer) ausreichend wäre. Jedoch bricht bei herkömmlichen Sitzen bereits bei 30 km/h die Rückenlehne. Die Sitzkonstruktion müsste daher auf jeden Fall stabiler ausgelegt sein.
Das führt jedoch unweigerlich in ein Dilemma: Denn je steifer die Lehne ist, desto höher sind die Belastungen für die Wirbelsäule. Für zukünftige Fahrzeuge müssten die Sitzentwickler versuchen, einen Kompromiss zu finden.
4. Insasse rückwärts liegend
Versuch: Der Sitz bleibt um 180° gedreht, jetzt allerdings liegt der Dummy. Die Folge: Der 3-Punkt-Gurt (mit Gurtstraffer und Gurtkraftbegrenzer) kann den Dummy nicht sichern. Die zurückgeneigte Sitzlehne und die Tatsache, dass sie dann auch noch bricht, wirken wie eine Abschussrampe für den Insassen: Der Kopf des Dummys kollidiert mit der Abstützkonstruktion, der Nacken- und Schulterbereich verkeilt sich an der Kopfstütze. Im Extremfall würde der Insasse mit dem Fahrzeugdach kollidieren oder aus dem Fahrzeug heraus katapultiert.
Ergebnis: In diesem Szenario werden die üblichen Euro NCAP-Limits bezüglich Kopf und Nacken weit überschritten. Die beiden Körperregionen werden mit "rot" bewertet. Solche Gefährdungspotentiale gilt es also unbedingt zu verhindern. Möglicherweise könnte ein anderes Gurtsystem als der herkömmliche Dreipunktgurt das Problem des "Aufsteigens" lösen.
Der Fahrzeugcrash
Um das Crash-Geschehen realistisch und bei höherer Geschwindigkeit nachvollziehen zu können, hatten die ADAC Ingenieure nur einen "Schuss". Sie entschieden sich deshalb, durch den einen Versuch gleich zwei unterschiedliche Szenarien für Fahrer und Beifahrer abzudecken.
1. Testszenario: Fahrer in liegender Position
Der Versuch: Der Fahrzeuglenker hat es sich hinter dem Lenkrad weit zurücklehnend bequem gemacht. Wie beim Schlittenversuch wurde in der Sitzfläche des Testfahrzeugs eine Rampe verbaut, um den Effekt des Submarinings zu unterbinden.
Das Ergebnis: Analog zum Schlittenversuch wurden auch beim realen Crash hohe Belastungen für die Wirbelsäule des Fahrers ermittelt. Infolge der nicht für die liegende Sitzposition angepassten Gurtführung bzw. Gurtanbindung wird der Oberkörper stärker beschleunigt, bis er durch den Gurt zurückgehalten wird. Dies führt zu hohen Belastungen in der Brust.
Unglücklicherweise trifft der Kopf den Airbag dann nicht zentral, sondern stößt stattdessen auf das Lenkrad. Als Folge der Drehung des Kopfes und des Oberkörpers schießt der Dummy in einer Rückwärtsbewegung ("Rebound") mit dem Hinterkopf gegen die B-Säule. Alle diese Details müssen Entwickler berücksichtigen, um neue technische Lösungen zu finden.
2. Beifahrer mit den Füßen auf dem Armaturenbrett
Versuch: Der Beifahrer hat seine Füße während der Fahrt auf dem Armaturenbrett ablegt. Das ist keine Sitzposition, die erst in zukünftigen Fahrzeugen möglich sein wird, sondern wird heute schon vielfach praktiziert. Bei diesem Versuch wird also gezeigt, welche Auswirkungen eine Out-of-Position-Haltung schon heute auf die Verletzungsschwere des Insassen haben kann.
Ergebnis: Die Beine des Dummys werden beim Crash durch den auslösenden Beifahrer-Airbag nach oben gedrückt. Aufgrund der zurückgelehnten Sitzposition hat der Oberkörper einen längeren Weg und wird dadurch stärker beschleunigt. Mit dieser Beschleunigungsenergie trifft der Kopf auf das eigene Knie/Schienbein. Im Rebound dreht sich der Dummy zudem aus dem Gurt heraus und sein Kopf verfehlt die schützende Kopfstütze. Eine fatale Kettenreaktion.
Wie viel schwerwiegender die Verletzungen im Vergleich zu einem Crash mit normal sitzendem Beifahrer ausfallen, sieht man in der Gegenüberstellung der Messwerte (farbige Grafik). Auch aus der Unfallforschung weiß man, dass Kopf und Nacken so stark beansprucht werden, dass die Verletzungen der Wirbelsäule oft tödlich sind.
Fazit: Es besteht Entwicklungsbedarf
Wenn durch das automatisierte Fahren in Zukunft veränderte Sitzpositionen möglich werden, müssen dafür neue Rückhaltesysteme entwickelt werden. Die Versuche beweisen eindeutig, dass heutige Gurt- und Airbagsysteme für liegende oder stark zur Fahrtrichtung veränderte Positionen absolut nicht geeignet sind. Um insbesondere liegende Sitzpositionen zu ermöglichen, müssen Effekte des Submarinings vermieden und gleichzeitig die Belastungen für die Wirbelsäule verringert werden.
Zusatzversuche haben gezeigt: Wird der jeweilige Sitz um etwa 15° zur vorwärts ausgerichteten Position verdreht, treten keine signifikant höheren Belastungen für die Insassen auf. Um die Insassen in zukünftigen Fahrzeugen mit veränderten Sitzpositionen ausreichend zu schützen, müssen Airbags, Sitz und Kopfstütze den veränderten Bewegungsabläufen angepasst werden.
In den Versuchen wurden übrigens zwei unterschiedliche Gurtsysteme eingesetzt. Allerdings zeigte sich, dass weder der Dreipunkt- noch der Sechspunktgurt den Insassen in allen Sitzpositionen ausreichend sichern kann.
Was man für heutige Szenarien mit Bestimmtheit sagen kann: Ein Beifahrer sollte seine Füße während einer langen Autofahrt unter keinen Umständen auf das Armaturenbrett legen. Das Risiko, bei einem Unfall getötet zu werden, steigt um ein Vielfaches. Dessen sollte sich jeder, der das auch nur für einen Moment erwägt, sehr bewusst sein.