Rad-Professorin Jana Kühl: "Die Klimaschutzdebatte fördert die Wahrnehmung des Fahrrads"
Personalmangel in Kommunen, fehlender Platz auf Straßen für Radfahrende und zunehmende Achtlosigkeit im Miteinander – was Deutschlands erste Radverkehrs-Professorin Jana Kühl verbessern möchte.
ADAC Redaktion: Sie sind Deutschlands erste Professorin für Radverkehrsmanagement. Spielt das Fahrrad auch in Ihrem Privatleben eine Rolle?
Jana Kühl: Das Rad ist in erster Linie für mich ein praktisches Verkehrsmittel, um von A nach B zu kommen. Aber ich nutze es auch gern in der Freizeit.
Auf was für einem Fahrrad trifft man sie an?
Zum Einkaufen nutze ich ein einspuriges Lastenfahrrad als Auto-Ersatz. Dann habe ich ein Faltrad, um meine Fahrten mit Bus- und Bahn kombinieren zu können. In der Freizeit nutze ich mein Mountainbike. Und ich habe noch ein normales Alltagsfahrrad.
900 Millionen Euro soll es im Rahmen des Klimaschutzprogramms der Bundesregierung bis 2023 für den Radverkehr geben. Reicht das, und wird das Geld richtig eingesetzt?
Es würde nicht ausreichen, wenn die planenden Kommunen die Möglichkeit hätten, die Mittel sofort abzurufen. Denn wenn man die Ziele ernst nimmt, dass Deutschland Fahrradland wird, und den Menschen ermöglichen will, sicher mit dem Fahrrad von A nach B zu kommen, müsste man sicher noch mehr investieren.
Zur Person
Prof. Dr. Jana Kühl (36), lebt in Kiel und ist seit November 2020 Professorin für Radverkehrsmanagement am Institut für Verkehrsmanagement der Ostfalia-Hochschule für angewandte Wissenschaft in Salzgitter. Sie studierte Geografie, Soziologie und Öffentliches Recht an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und promovierte an der Fakultät Raumplanung an der TU Dortmund.
Der Engpass sind also die Kommunen?
Sie müssen die Veränderungen umsetzen. Die Maßnahmen werden in sehr unterschiedlicher Qualität realisiert, wir haben vielfach noch Bereiche, in denen nur Schutzstreifen gepinselt werden, oder Radfahrstreifen, die auf vielbefahrenen Hauptverkehrsachsen weder den Autofahrenden noch den Radfahrenden wirklich helfen. Vor allem aber haben die Kommunen ganz oft ist das Problem, dass sie die Mittel gar nicht abrufen können, weil Personal fehlt, das sich mit Radverkehrsfragen auseinandersetzen kann. Hierfür müssen erst Stellen geschaffen werden.
Fachleute, die Sie als Professorin auch in ihrem Studiengang ausbilden?
Richtig. Ich habe vom Bundesverkehrsministerium den Auftrag bekommen, Radverkehrsfachleute überhaupt erst einmal auszubilden, weil der Markt so leer ist. Es gab bisher wenige Studiengänge, die sich mit Radverkehrsplanung beschäftigt haben, diese Lücke soll jetzt geschlossen werden. Es ist Bestandteil der Ausbildung, dass die Studierenden auch lernen, wie Radverkehrsförderung funktioniert, wie sie finanziert wird, da geht es um klassische planerische Fragen.
Im Zuge der Verkehrswende spielt das Fahrrad eine große Rolle. Wie können Sie diese Rolle durch Ihre Professur begleiten und fördern?
Wir müssen die sehr emotional und sehr konfliktreich geführte Debatte um die Verkehrswende versachlichen. Wir müssen adäquate Lösungen aufzeigen. Momentan sind die Diskussionen sehr verzerrt, Klimaschutzdebatten werden gern als ideologisch diffamiert. Durch wissenschaftliche Erkenntnisse lässt sich belegen, um welche Problematik es geht, und welche Maßnahmen sinnvoll sind.
Mein persönliches Anliegen dabei ist: Ich bin keine klassische Verkehrsplanerin, keine Ingenieurin. Ich komme aus der Sozialwissenschaft und will nicht nur über bauliche und technische Lösungen reden, sondern mir auch ansehen, wie die Lebenswelt der Menschen aussieht. Unter welchen Bedingungen kann Radfahren für sie funktionieren? Wie kann man Menschen helfen, die sich gern anders fortbewegen wollen, dies derzeit aber einfach nicht können.
Ist der Studiengang "Radverkehrsplanung" gut besucht?
Radverkehrs-Lehrveranstaltungen sind momentan noch angedockt an die bestehenden Studiengänge. Verkehrsstudiengänge werden grundsätzlich nicht gerade überrannt. Es könnten mehr Studierende sein, insbesondere wenn man sieht, dass Verkehrsplanerinnen und -planer einfach gebraucht werden. Gerade in dieser dynamischen Zeit, wo wir vor den Herausforderungen der Verkehrswende stehen, ist es erstaunlich, dass der Studiengang nicht so beliebt ist wie BWL oder Neue Medien.
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Das Thema Radfahren müsste doch gerade die jüngeren Menschen ansprechen?
Meine speziellen Lehrveranstaltungen zum Thema Radverkehr werden auch sehr gut angenommen, und man merkt, dass die Studierenden Lust haben, sich mit dem Radverkehr zu beschäftigen. Teilweise liegt das daran, dass man sie in ihrer Lebenswelt abholt – so haben sie die Motivation, etwas zu ändern und mitzugestalten. Es gibt aber Studierende, die gar nicht selbst Rad fahren, für die sich dann aber eine neue Perspektive öffnet. Das freut mich natürlich besonders, zumal der Standort Salzgitter stark am Auto orientiert ist und auch noch in einer Automobilhersteller-Region liegt.
Wo müsste Ihrer Meinung nach mehr für Radfahrer getan werden: in Städten oder im ländlichen Raum?
Sowohl als auch. In den Städten bestehen mehr Möglichkeiten, das Fahrrad tagtäglich als Verkehrsmittel einzusetzen, und gleichzeitig haben wir da auch die größten Konfliktfelder, weil der Platz begrenzt ist. Hier müssen wir die Konflikte reduzieren und dafür sorgen, dass alle sicher von A nach B kommen. In ländlichen Gebieten spielt das Fahrrad häufig keine Rolle, da fehlt es schlichtweg an Fahrradinfrastruktur. Der ländliche Raum besteht ja nicht nur aus Wald und Feldern, sondern aus Klein- und Mittelstädten, in denen man zum Arzttermin oder Supermarkt mit dem Rad fahren kann. Noch ist man im ländlichen Raum sehr auf das Auto angewiesen – hier könnte das Rad der Lückenschluss sein, um damit zum Bahnhof im nächsten Ort zu kommen und dann auf die Bahn umzusteigen. Aber das funktioniert nur, wenn die Menschen an der Landstraße sicher fahren können und sich nicht unwohl fühlen, weil sie mit 80 km/h überholt werden.
Wo in Deutschland sehen Sie Radverkehrsprojekte mit Vorbildcharakter?
Es gibt vorbildliche Städte, beispielsweise Münster. Hier hat man das Selbstverständnis, dass das Fahrrad als Verkehrsmittel einfach dazugehört. Dementsprechend sind auch die Infrastrukturen so ausgerichtet, dass man viel Platz für Radfahrende bildet. Ähnlich wie in den Niederlanden haben Radfahrende dort auf vielen gefragten Routen Vorrang. So wird es für sie attraktiver, weil sie einfach schneller sind als mit dem Auto. Vorbildcharakter hätten auch Maßnahmen wie Brücken: Man schafft kürzere Wege, entschärft Kreuzungen und hilft auch dem Verkehrsfluss der Autofahrenden. Das gibt es aber in Deutschland so noch nicht. Aber auch bei uns machen sich die Städte allmählich auf den Weg, versuchen gut ausgebaute Radwege einzurichten, um auch das Pendeln mit dem Rad zur Arbeit zu erleichtern. Es passiert einiges, aber es ist noch immer Stückwerk und zu wenig durchgängig.
Sind die Niederlande das einzige Muster-Fahrrad-Land in Europa?
Ja. Aber auch woanders tut sich etwas. In Paris beispielsweise wird flächendeckend Tempo 30 eingeführt. Das hat gar nicht so massive verkehrliche Effekte, da man dort ohnehin nur im Stop-and-go vorankommt, aber es hat natürlich eine Symbolwirkung, wenn die Geschwindigkeiten heruntergeregelt werden Die Reaktionszeiten der Autofahrenden werden dadurch andere, und so steigt das Sicherheitsempfinden der Radfahrenden. ln den Superblocks in Barcelona darf der Autoverkehr weiterhin auf ausgewählten Strecken in Wohnblocks hinein, aber es wird nicht alles vom Auto bestimmt, hier steht die Aufenthaltsqualität der Menschen, die dort wohnen, im Vordergrund. So wird auch das Radfahren und Zu-Fuß-gehen gefördert, denn es entstehen weniger Stress und Gefahren.
Laut ADAC Monitor fühlen sich Radfahrer im Straßenverkehr am unsichersten. Wie lässt sich das ändern?
Wo es möglich ist, sollte man die Verkehre trennen. Wenn einem niemand in die Quere kommen kann, man nicht geschnitten werden kann. Es steigert das subjektive Sicherheitsempfinden, aber auch die objektive Sicherheit, wenn man Radwege etwa durch Poller abtrennt oder den Radverkehr auf einer anderen Route führt als den Hauptverkehr. Das senkt auch das Konfliktpotenzial zwischen Auto- und Radfahrenden. Je weniger Reibereien, desto mehr Toleranz.
Das hört sich bestechend einfach an. Klappt das denn in der Praxis?
Es funktioniert leider nicht immer, weil nicht überall genug Platz vorhanden ist. Außerdem ist es nach wie vor eine Frage der Priorisierung: An der ein oder anderen Stelle müssten Kapazitäten im Kfz-Verkehr reduziert werden, um dem Radverkehr Platz zuzuschlagen. Das wird dann ungern oder gar nicht gemacht.
Aber auch auf den Radwegen selbst kommt es immer mehr zum Platzproblem, dort wird es immer enger, insbesondere durch die steigende Beliebtheit breiter Lastenräder. Was ist die Lösung?
Schon jetzt beklagen Radfahrende in Städten die Enge zu Stoßzeiten und die damit verbundenen Reibereien. Und natürlich funktioniert es nicht, wenn Lastenräder die Infrastruktur nutzen, die schon für die normalen Räder nicht ausreicht. Da ist die Infrastruktur nicht zeitgemäß und entspricht nicht den Bedürfnissen. Wir müssen klären, wie sich der Straßenraum so aufteilen lässt, dass nachhaltige emissionsfreie Mobilitätsformen eine reelle Chance haben.
Mit dem Lastenfahrrad haben wir ein Verkehrsmittel, auf das die Infrastruktur nicht eingestellt ist, das aber ein Weg ist, um zur Emissionsreduktion beizutragen. Also müssen auch Lösungen gefunden werden. Das betrifft nicht nur das Fahren, sondern auch das Abstellen von Lastenrädern. Teilweise werden die Wege sehr lang, weil man ewig suchen muss, um einen Platz zum Abstellen zu finden, wo das Rad niemanden behindert. Man muss schauen, wie Pkw-Verkehr und Lastenräder zusammen funktionieren, wie man sie harmonisiert bekommt mit dem Kfz-Verkehr auf der Straße, denn auf die klassischen Radwege passen sie nicht.
Kommt eine Professur wie die Ihre nicht zu spät, angesichts des gigantischen Veränderungsdrucks?
Absolut. Wir haben sehr viele Studiengänge, die sich mit Motorentechnologie, mit unterschiedlichen Aspekten der Verkehrsplanung beschäftigen, wir haben auch Lehrstühle, die sich mit ÖPNV-Planung beschäftigen. Aber der Radverkehr kam bislang nicht vor. Bislang war die Vorherrschaft der Interessen der Autofahrenden so groß, dass es wenig Druckmöglichkeiten gab, Alternativen zu fördern und zuzulassen.
Dabei dürfte die Klimaschutzdebatte hilfreich sein?
Ja. Lange wurde das Thema Radverkehr marginalisiert, durch die Klimaschutzdebatte hat sich das verschoben – in der Wahrnehmung des Fahrrades und auch in der Resonanz der Bevölkerung. Die Klimaschutzdebatte öffnet ein neues Fenster, nicht mehr eindimensional in Autoverkehrsplanung zu denken.
Was nervt Sie ganz persönlich als Radfahrerin?
Ich beobachte zunehmend Achtlosigkeit und Egoismus. Und das ist verkehrsmittelunabhängig. Wenn ich mit dem Rad unterwegs bin, erlebe ich, dass andere einem völlig achtlos vor den Karren fahren und sich rücksichtslos verhalten. Man könnte die Qualität für alle im Straßenverkehr deutlich steigern, indem man etwas umsichtiger aufeinander achtet und nicht nur darauf, dass man selbst schnell ankommen möchte. Am Ende haben alle etwas davon, wenn man einen Weg nicht nur als Stress empfindet, weil "bloß Idioten auf der Straße sind".