Verkehrssicherheit bedeutet mehr Freiheit
Martin* lebt in einem Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung in Oberboihingen (Landkreis Esslingen). Der 40-Jährige ist relativ selbstständig, arbeitet in einer Werkstatt, die zur Einrichtung „Leben inklusiv“ gehört. Über die Jahre hinweg hatte er sich immer wieder gewünscht, einmal Fahrrad zu fahren. „Das hat ihm aber keiner zugetraut“, erklärt Dimitri Wedmann, der den Bereich „Tagesabläufe“ leitet. Aber Martin hat alle überrascht. Mittlerweile ist er auf dem Fahrrad so fit, dass er sogar bei den Sommer-Ausflügen mitradeln darf. Was ist geschehen? „Leben inklusiv“ hat zusammen mit der Verkehrspolizei Nürtingen ein Projekt ins Leben gerufen, das kürzlich mit dem Verkehrspräventionspreis „Gib acht im Verkehr“ des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet wurde.
Die rund 250 Klienten, die in Einrichtungen von „Leben inklusiv“ wohnen und arbeiten, können sich im Rahmen des Projektes zu Fahrrad- und Fußgängertrainings anmelden, die in Kleingruppen oder sogar individuell im geschützten Raum angeboten werden. Für Martin ging es auf den Verkehrsübungsplatz Nürtingen, wo er zusammen mit vier anderen Teilnehmenden Verkehrsregeln lernte. Er übte in den fünf Einheiten, wie man losfährt, ohne sich oder andere zu gefährden, wie man sich im fließenden Verkehr verhält, was ein Zebrastreifen bedeutet. „Er hat große Fortschritte gemacht. Das hätte niemand gedacht“, sagt Wedmann, der gleich noch die positiven Nebeneffekte erläutert: „Unsere Leute werden dadurch auch in anderen Bereichen selbständiger. Sie sind glücklich, weil sie anschließend mehr Freiheiten haben.“
Das trifft auch auf Kollegen von Martin zu, die das Rad-Training, das einmal im Jahr angeboten wird, absolviert haben. Der ein oder andere kommt nun selbstständig zur Arbeitsstätte, braucht keinen Fahrdienst mehr. Das gilt ebenso für jene, die das Fußgänger-Training absolviert haben. Sie sind nun in der Lage, den Weg vom Elternhaus zur Werkstatt selbst aktiv zurückzulegen. Die Teilnehmenden haben gelernt, wie sie zu Fuß sicher zur Bushaltestelle oder zum Bahnhof kommen. Für den Ernstfall auf dem täglichen Weg haben sie auch die nötigen Verhaltensregeln verinnerlicht. Was ist, wenn mein Bus zu spät kommt oder ausfällt? „Man muss andere Menschen ansprechen oder per Handy die Eltern kontaktieren. Für Menschen mit geistiger Behinderung ist das nicht selbstverständlich“, erläutert Wedmann. Gleichwohl ist der Aufwand für das Fußgängertraining sehr hoch. Es kann sogar eine Eins-zu-Eins-Betreuung nötig sein. Zwar gibt es auch Kleingruppen, aber im Extremfall zieht der „Leben inklusiv“-Mitarbeiter mit seinem Schützling los, erkundet den Weg von der Haustüre zur Arbeitsstätte. Da lauern Ampeln, Überquerungen, Gefahrenstellen. Daher laufen diese Übungen im Realverkehr über ein ganzes Jahr.
In der Adventszeit war nun eine Abordnung der Verkehrspolizei zu Besuch in einem der Wohnheime. „Wir wollten uns bedanken“, erzählt Wedmann. Es gab Kaffee und Plätzchen, dabei wurden bereits die Trainingstermine fürs Jahr 2024 festgelegt. Die Termine für die Fahrradausflüge im Sommer stehen auch schon. Martin hat sich längst eingetragen.
*Name von der Redaktion geändert.
„Es freut mich außerordentlich, dass bei diesem tollen Projekt durch ganz viel persönliches Engagement Menschen mit geistiger Behinderung die selbst aktive und sichere Teilnahme am Straßenverkehr ermöglicht wurde. Die neue Mobilität und Selbstständigkeit bedeuten für diese Menschen ein großes Stück Lebensqualität und das Erreichte motiviert sie für neue Aufgaben und Herausforderungen. Zugleich leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag für mehr Verkehrssicherheit.“
Carl-Eugen Metz, Vorstand für Verkehr und Umwelt beim ADAC Württemberg©Frank Eppler
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Info
Der Verkehrspräventionspreis in Baden-Württemberg wird seit 1994 durch die Verkehrssicherheitsaktion GIB ACHT IM VERKEHR für herausragende Aktivitäten und Aktionen in der Verkehrsunfallprävention verliehen. Im Mittelpunkt stehen Kampagnen und Projekte für Kinder, Heranwachsende, junge Fahrer und Senioren.