ADAC Verkehrsforum 2024 Bilanz: Es braucht Mut und Kompromisse
Reger Meinungsaustausch im Rendsburger Arsenal
Am Ende des zweiten Verkehrsforums des ADAC Schleswig-Holstein e.V. und der Vereinigung der Straßenbau- und Verkehrsingenieure Schleswig-Holstein e.V. (VSVI SH e.V.) in Rendsburg waren sich alle einig. Bei der Frage nach der gerechten Verteilung der Straße zwischen Fußgängern, Radfahrenden, Pkw und Öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es nicht die eine Ideallösung. Es braucht Veränderung und die Einsicht, dass die bisherige Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs längst nicht mehr zeitgemäß ist.
Auf die Bühne traten:
Jörg Ortlepp, Leiter Verkehrsinfrastruktur der Unfallforschung der Versicherer GDV
PDF ansehenVortrag Jörg OrtleppPDF, 1,48 MBProf. Dr. Ing. Tobias Volkenhoff, Professor an der IU Internationale Hochschule Kiel
PDF ansehenVortrag Prof. Dr. Ing. Tobias VolkenhoffPDF, 1,62 MBDr. Ralf Buchstaller, Diplom-Psychologe, Medizinisch-Psychologisches Institut TÜV NORD Mobilität GmbH & Co. KG, Hamburg
PDF ansehenVortrag Dr. Ralf BuchstallerPDF, 375 KBDipl. Ing. Dirk Vielhaben, Plan N GmbH
PDF ansehenVortrag Dipl. Ing. Dirk VielhabenPDF, 4,6 MBMichael Abraham, Leiter Kommunales Mobilitätsmanagement Deutsche Plattform für Mobilitätsmanagement (DEPOMM) e.V., Berlin
PDF ansehenVortrag Michael AbrahamPDF, 1,18 MB
Um den Verkehrsraum in den Städten und Gemeinden wird heute mehr denn je hart gerungen. Unterschiedliche Verkehrsteilnehmer – vom Fußgänger über Radfahrer bis hin zum Autofahrer – haben unterschiedliche Bedürfnisse und Ansprüche. Doch der Platz auf den Straßen bleibt begrenzt. Mit der Mobilitätswende wird dieser Druck nur größer: Die Abkehr von der autogerechten Stadt rückt umweltfreundliche Verkehrsmittel in den Fokus. Fuß- und Radverkehr sowie der Öffentliche Personennahverkehr werden in der aktuellen Verkehrsplanung deutlich stärker berücksichtigt und gefördert. Neue Verkehrsmittel wie Lastenfahrräder oder Pedelecs stellen hinsichtlich Querschnittsbreite und Linienführung neue Anforderungen an die Infrastruktur, während das Auto für viele dennoch unverzichtbar bleibt. Das führt zu Spannungen und Konflikten, die dringend gelöst werden müssen.
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Die Verkehrswende hat zur Voraussetzung, dass immer Menschen vom Auto aufs Fahrrad oder andere Verkehrsmittel umsteigen. Die Bereitschaft dazu ist da, wie die Verkaufs- und Nutzungszahlen bei Fahrrädern, Pedelecs und E-Bikes zeigen. Das bringt aber auch neue Probleme mit sich, wie Jörg Ortlepp von der Unfallforschung der Versicherer in seinem Vortrag eindrucksfall belegte. So gab es 2023 in Deutschland123.867 verunglückte Fußgänger und Radfahrer. Eine Zahl, die dabei aufmerken lässt: In 2023 wurden mehr Radfahrende bei Alleinunfällen schwer verletzt als bei Unfällen zwischen Radfahrenden und Pkw. Aber auch bei Unfällen zwischen Radfahrenden und Pkw sind die Unfallverursacher demnach mehrheitlich Radfahrer. Der Grund ist vor allem im Verkehrslayout zu suchen. Da, wo Fußgänger, parkende Autos und Fahrradverkehr zu dicht aneinandergeraten, besteht erhöhte Unfallgefahr.
Bei den Fußgängern passieren Zweidrittel aller Unfälle mit Autos. Aber auch Radfahrer sind mit 16 Prozent der Unfälle, die Fußgänger erleiden, beteiligt.
Fazit des Unfallforschers Jörg Ortlepp: „Sicherheit braucht Platz.“
Seine Empfehlungen:
Freigabe von Fußverkehrsflächen hinterfragen, bei hohem Fuß- und/oder Radaufkommen vermeiden.
Freigabe, insb. von Fußgängerzonen, auch vor dem Hintergrund der Radgeschwindigkeiten abwägen.
Schmale Radwege zurückbauen, möglichst keine Zweirichtungsradwege bei hohem Fuß-Querverkehr.
Gewährleistung guter Sichtbeziehungen an Stellen mit hohem Fuß-Querverkehr, Reduktion des Parkens.
An Haltestellen Einzelfallabwägung mit Minimierung der Konfliktpotenziale (Rad-Kfz vs. Fuß-Rad).
Polizeiliche Überwachung an auffälligen Stellen.
Verhaltenskampagnen für beide Seiten.
„Der zur Verfügung stehende Straßenraum reicht nie aus, um die Ansprüche aller Verkehrsteilnehmenden zugleich zu erfüllen. Die Kunst der Verkehrsplanung besteht darin, bestmögliche Kompromisse zu erarbeiten und diese zu kommunizieren.“ So lautet die Devise von Professor Tobias Volkenhoff von der Fachhochschule Kiel, der seine Studenten gleich mit einer anspruchsvollen Aufgabenstellung dazu beauftragt hat. Diese wurden in vier Gruppen eingeteilt und mussten dann aus der Perspektive der Autofahrenden, der Radfahrenden, des ÖPNV und Landschaftsplaner ein Stück der Kieler Grenzstraße zum Ostuferhafen neu planen. Dabei wurde deutlich, dass es nur mit klugen Kompromissen geht und bei zu knappem Raum für alle manchmal besser ist, für andere Verkehrsteilnehmergruppen Ausweichstrecken umzuwidmen. Die Studierenden präsentierten auf dem Verkehrsforum ihre Arbeiten an Stelltafeln und beantworten zahlreicher Besucherfragen.
Wo viele unterschiedliche Verkehrsteilnehmer aufeinandertreffen, kommt es schnell zu Konflikten und manchmal auch zu Aggressionen. Und so wurde der Vortrag dazu von Diplom-Psychologe Ralf Buchstaller vom Medizinisch-Psychologisches Institut TÜV NORD Mobilität GmbH & Co. KG, Hamburg mit großem Interesse verfolgt. So manche Eskalation ließe sich vermeiden, wenn die Beteiligten das Verhalten des vermeintlichen Gegners nicht auf der persönlichen emotionalen Ebene ansiedeln würden, sondern auf die jeweilige Verkehrssituation bezögen. Es gibt aber auch ein paar Maßnahmen darüber hinaus, so Staller:
Es hilft, wenn der Verkehrsraum einen stetigen Verkehrsfluss begünstigt(vermindert Frustration).
Der Straßen- und Wegeverlauf ist ausreichend überschaubar und in der Breite optimiert (mindert die Gefahr von aggressiven Territorialverhalten).
Veränderungen im Verkehrsraum, z.B. eine neue Baustelle, wird den Verkehrsteilnehmenden rechtzeitig, klar und deutlich kommuniziert (vermindert das Auftreten von Frustration und Attributionsfehlern.)
Für Dipl.- Ing Dirk Vielhaben von der Plan N GmbH aus Berlin ist klar, dass es „keine Mobilitätswende ohne Flächengerechtigkeit geben kann“. Dies könne nur durch ein komplettes Umdenken und eine flächensparende Mobilitätsplanung ermöglicht werden. Vielhaben wünscht sich einen ganzheitlichen Ansatz und nicht nur punktuelle Maßnahmen. „Dazu ist reichlich Mut nötig und eine Abkehr von der autogerechten Stadt“ so Vielhaben. Auch er plädiert dafür, die Menschen durch Aufklärung, Kampagnen und eine viel intensivere Kommunikation mitzunehmen.
Michael Abraham, Leiter Kommunales Mobilitätsmanagement der Deutschen Plattform für Mobilitätsmanagement (DEPOMM) e.V. in Berlin stellte die Forderung der DEPOMM für den Einsatz von Mobilitätsmanagern vor. Diese Profis unterstützen Kommunen und Verbraucher ihr Mobilitätsverhalten zu hinterfragen und im Sinne des Klimaschutzes und der eigenen Lebensqualität zu verändern. Dazu brauche es Vernetzung, Erfahrungsaustausch, Kommunikation und die Beratung von Politik und Verwaltungen.
Die anschließende lebhafte Diskussion und Fragerunde machte deutlich, dass die Veranstalter wieder ein topaktuelles Thema aufgegriffen hatten. Und anders, als in so mancher Fernsehtalkshow blieb die Diskussion sachlich, fair und von gegenseitigem Respekt bestimmt.
Peter Bender, Vorsitzender des VSVI SH e.V., forderte mehr Mut bei den notwendigen Entscheidungen der Mobilitätswende. Aus seiner Erfahrung als Tiefbauamtsleiter der Landeshauptstadt Kiel berichtete Bender, wie wichtig intensive Kommunikation mit allen Beteiligten ist.
Lars Münchau, Vorstand für Verkehr und Technik beim ADAC Schleswig-Holstein zitierte die Präambel des Verkehrspolitischen Leitbildes des ADAC, an dem sich alle Maßnahmen und Entscheidungen messen lassen müssten: „Nachhaltige Mobilität ist die wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche und soziale Teilhabe und allen Menschen in Deutschland zugänglich, unabhängig von Alter, Mobilitätseinschränkungen, Ort und Einkommen.
Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer entscheiden selbst und bewusst, wohin, wie häufig und in welcher Weise sie mobil sind.“ Dem konnte am Ende wohl jeder zustimmen.
Rainer Pregla
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit | Marketing
ADAC Schleswig-Holstein e.V.
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