Ein Puzzle aus Unfallspuren - ein Tag mit der Verkehrsunfallforschung Dresden
Ihre Einsätze machen Deutschlands Straßen sicherer. Seit über 20 Jahren rücken die Unfallforscher aus Dresden für Wissenschaft und Forschung jährlich zu etwa 1000 Unfällen aus.
Es ist elf vor zwölf. Für das Unfall-Erheber-Team um Frank Sommer beginnt gleich die Schicht. Jonathan Söllner ist am Platz. Per Knopfdruck am Telefon verbindet er sich mit dem Führungs- und Lagezentrum Dresden. „Verkehrsunfallforschung. Wir melden uns zum Dienst“, sagt der
24-Jährige. Zwei weitere Anrufe gehen an die Polizeidirektion in Görlitz und die Regionalleitstelle Hoyerswerda. Jetzt erhalten die Mitarbeiter der Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden GmbH (VUFO) über Unfälle mit Personenschaden in diesen Bereichen eine Nachricht. Dann heißt es: Einsatz bei Unfall.
Vorerst bleibt es ruhig in den Büros in der Semperstraße. Seit 21 Jahren erheben die Dresdener Unfallforscher in einem über Deutschlands Grenzen hinaus einzigartigen Projekt Daten zu Unfällen im Umfeld Dresdens. „Im Jahr 1999 regte die Automobilindustrie den Aufbau einer zweiten Verkehrsunfallforschung an“, sagt Uli Uhlenhof, VUFO-Leiter der
Unfalldatenerhebung. Seinerzeit gibt es nur ein Erhebungs-Team in Hannover an der Medizinischen Hochschule, die seit den 1970er Jahren Unfälle im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen erforscht.
Mit jenem Forschungsinstitut des Bundesministeriums für Verkehr kooperiert die Forschungsvereinigung Automobiltechnik. So entsteht das GIDAS-Forschungsprojekt - German In-Depth Accident Study - in dessen Mittelpunkt Unfälle beispielhaft in zwei deutschen Großstädten erhoben werden. Solche Daten werden benötigt, um die Fahrzeuge und Infrastruktur sicherer sowie neue Gesetze für den Schutz aller Verkehrsteilnehmer zu machen. Die Unfalldokumentation erfolgt täglich in wechselnden sechsstündigen Einsatzschichten.
Das Einsatzgebiet ist größer als das Saarland
12 Uhr ist an diesem Mittwoch Schichtbeginn. „Wir nehmen jährlich etwa 1000 Unfälle in einem Umkreis von gut 40 Kilometern rund um die Landeshauptstadt auf“, sagt Uli Uhlenhof. Das Einsatzgebiet ist auf der Karte im Einsatzraum abgesteckt. Es sind rund 3500 Quadratkilometer, und es ist damit größer als das Saarland. Neben dem Stadtgebiet von Dresden gehören der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sowie Teile der Landkreise Meißen und Bautzen dazu. Wartend auf den ersten Einsatz codieren die vier Vufo-Mitarbeiter
ältere Fälle. „Vor Ort erfassen wir alle Daten. Jeder bearbeitet dann seinen aufgenommenen Unfall weiter“, erklärt Jonathan Söllner.
Seit zwei Jahren gehört er zu den Dresdener Unfallforschern, wie knapp 30 andere Studenten auf Minijob-Basis. Festangestellt sind im GIDAS-Projekt 13 Mitarbeiter in der VUFO, darunter acht Unfallerheber und zwei Rekonstrukteure. Frank Sommer ist dagegen, wie er selbst sagt, ein „alter Hase“. Der Kfz-Mechaniker fuhr jahrelang Pannendienst und begegnete dabei immer mal wieder den Unfallforschern bei der Arbeit vor Ort. Als der 38-Jährige von
einer freien Stelle hörte, bewarb er sich. „Seit ich hier dabei bin, fahre ich anders Auto“, sagt der Techniker und vertieft sich am Bildschirm in eine Akte. Doch dann vibrieren die Handys auf den Schreibtischen.
Koordinator Jonathan Söllner schaut auf seinen Bildschirm. „Ein Elfjähriger ist auf dem Elberadweg gestürzt“, ruft er seinen Kollegen zu und stellt schnell noch einen Kontakt zur Polizei her, um zu erfahren, wo sich der Unfall ereignet hat. Die Techniker Frank Sommer und Richard Anton sowie die Rettungsassistentin Jana Wenzel greifen nach Tablet, Kamera und
Erhebungskoffer. Sie streifen die gelben Westen mit der Aufschrift „Unfallforschung“ über. Jonathan Söllner kennt zwischenzeitlich den Unfallort etwas genauer. „Östlich der Albertbrücke, Neustädter Seite“, sagt er seinen Kollegen. Auf dem Aufnahmebogen auf dem Klappbrett steht die Nummer 769.
Mit Blaulicht und Sondersignal rutschen die Fahrzeuge durch den beginnenden Feierabendverkehr in Dresden. Die Landeshauptstadt ist Unfallschwerpunkt für die Unfallforscher, die Hauptursache sind inzwischen Unfälle zwischen Radfahrern und Fahrzeugen. „Die Autos sind in den vergangenen Jahren sehr viel sicherer geworden, die Fahrzeuginsassen sind sehr gut geschützt. Dafür verzeichnen wir einen relativen Anstieg bei Unfällen mit Fußgängern, Radfahrern und motorisierten Zweiradfahrern“, sagt Uli Uhlenhof.
Ganz aktuell betrachten die Dresdener parallel zu ihrer regulären Arbeit in einer Studie die Verkehrssicherheit der E-Scooter.
Von der Albertbrücke aus ist auf dem Elberadweg schon das Blaulicht vom Krankenwagen zu sehen. Er verlässt bereits den Unfallort, auch Spuren des Unfalls sind auf dem Asphalt nicht zu erkennen. Währenddessen ist bereits eine zweite Unfallmeldung eingegangen. Auf der Großenhainer Straße ist eine Radfahrerin gestürzt, Polizei und Rettung seien vor Ort, die Person ansprechbar, heißt es aus der Unfallmeldung. Die beiden Unfallforschungsfahrzeuge schieben sich auf prallgefüllten Straßen hin zum nächsten Einsatz. Vor Ort muss Jana Wenzel klären, ob die Verunfallte mit der Aufnahme der Daten einverstanden ist. Die Teilnahme am GIDAS-Projekt ist freiwillig. Außerdem müssen die Unfallforscher immer erst die Polizei ihre Arbeit machen lassen.
Bis zu 3000 Parameter werden pro Unfall aufgenommen
Für den Polizeiunfalldienst sind die Polizeihauptmeister Tom Kästner und Matthias Fritzsch vor Ort. Das Fahrrad steht schon in einem Schuppen im Hinterhof. Die Polizisten suchen nach Spuren an parkenden Autos, ob beim Sturz an ihnen etwas beschädigt wurde. Die Radfahrerin hat angegeben, dass ihr bei der Fahrt schwindelig wurde und sie so gefallen ist. Die Malteser
bringen sie in das nächste Krankenhaus und Rettungsassistentin Jana Wenzel gibt ihr OK weiter, dass sich die Kollegen an die Arbeit machen dürfen. Die Unfallaufnahme beginnt mit dem Messen der Umgebungs- und Straßentemperatur. Bis zu 3000 Parameter werden pro Unfall aufgenommen.
Richard Anton ist für diesen Fall der Bearbeiter. Der Wirtschaftsinformatikstudent geht auf den Hinterhof. Ein paar Kratzer sind am grauen Diamant-Fahrrad. Der 21-Jährige fotografiert es von allen Seiten, dann werden Sattel- und Lenker-Höhe sowie Rad vermessen. PHM Kästner kommt ebenfalls nach hinten. „Habt Ihr was an der Pedale entdeckt?“, fragt er und bekommt ein Kopfschütteln. Gemeinsam geht es wieder auf die Straße. Dort skizziert der
Unfall-Erheber nun den Unfallort, zeichnet unter anderem die Breite und das Gefälle des Radwegs ein. Das Messrad, die Ralle, ist dabei ihr ständiger Begleiter. Nach einer halben Stunde ist die Unfallaufnahme abgeschlossen.
Das Techniker-Team steigt ins Auto, Jana Wenzel fährt zur verletzten Radfahrerin ins Krankenhaus. „Wir sehen uns in der Semperstraße“, verabschieden sie sich. Doch es kommt anders. Kaum sitzen Frank Sommer und Richard Anton im Auto, ruft der nächste Einsatz. An der Stübelallee sind ein Auto und ein Fahrradfahrer zusammengestoßen. Blaulicht auf der Überholspur im Nieselregen. Bei der Ankunft am Unfallort fährt der Rettungswagen gerade weg, der Fahrzeugführer steht rauchend an der Seite. Sein schwarzer Geländewagen
zeigt am Heck leichte Kratzer. Immer wieder meint er, dass die Radlerin ihm reingefahren ist. Der Polizeiunfalldienst nimmt die Aussage auf.
Schuld und Unschuld interessieren die Unfallforscher nicht. Ihre Daten sollen helfen, wichtige Informationen zur Optimierung des Straßenbaus und der Verkehrsinfrastruktur zu liefern, die Sicherheit verschiedener Straßen- und Kreuzungstypen zu bewerten wie auch wichtige
Erkenntnisse der Verletzungsentstehung und der Notfalldiagnostik an der Unfallstelle aufzuzeigen. Punkt für Punkt arbeitet deshalb nun Frank Sommer die „Fallbibel“ ab, den Regen ignoriert er. Der gesamte Unfall wird dabei nachvollzogen, beginnend kurz vor dem Crash über die Reaktion der Beteiligten bis zu Kollisionen und Stillstand der Fahrzeuge. Wie Detektive setzen die Forscher das Puzzle der Unfallspuren zusammen. Als Fall 770 wird dieser Zusammenstoß in das GIDAS-Archiv eingehen.
Zurück im Techniker-Auto stehen bereits zwei neue Unfälle auf dem Handy-Display. Besonders viel haben die Unfallforscher im Frühling zu Beginn der Motorradsaison, an Freitagen, wenn alle ins Wochenende wollen und an verschneiten und eisigen Wintertagen zu tun. Durch den Umstieg vieler auf Fahrräder in der Coronakrise, zeichnet sich nochmals ein deutlicher Anstieg von Fahrradunfällen ab. Das Resümee der Unfallforscher im Coronajahr: Im Großraum Dresden ist in 60 Prozent aller Unfälle mit Verletzten ein Fahrradfahrer beteiligt. Die nächste Unfallmeldung zeigt diesen Trend.
Zum Schluss dürfen keine Fragen offen bleiben
Auf der Rankestraße hat eine geöffnete Autotür eine Radfahrerin gestoppt. Mit Blaulicht schlängelt sich Frank Sommer durch den Vorabendverkehr. An der Unfallstelle steht die Polizei. Zwei Zeugen kamen direkt zum Unfall. Eine ältere Dame beruhigt sich gerade wieder, ihre Tür an der Fahrerseite zeigt Spuren des Zusammenstoßes. Nach einem kurzen Gespräch mit den Unfallforschern ist sie einverstanden, dass ihr Fall der Forschung dienen darf. Die Radfahrerin ist schon im Krankenhaus.
Ihr altes Gefährt steht indes verlassen an einem Zaun, der Fahrradkorb ist verbeult. „Leider können wir so die Endlage nicht bestimmen, wie häufig bei Unfällen mit Rädern. Sie werden meist sofort von der Straße entfernt“, sagt Richard Anton. Für den Unfall-Erheber und seinen Kollegen beginnt die routinierte Fallaufnahme. Kamera, Tablett, Ralle, Reifendruckmesser
und Maßband kommen zum Einsatz, während Zeugen ihre Aussagen bei der Polizei machen. Leichte Kopfverletzungen habe sich die Radlerin durch den Sturz zugezogen, gibt ein Beobachter in Malerhose zu Protokoll. Das polizeiliche Aktenzeichen findet sich später im anonymisierten GIDAS-Fall mit der Nummer 771.
Zehn vor sechs steigen Frank Sommer und Richard Anton in ihr Einsatzfahrzeug – und
melden sich beim Koordinator in der Zentrale. „Kommt rein“, sagt der über Telefon. Der Abendverkehr ist immer noch dicht. „Wenn wir den Unfallort verlassen, dürfen keine Fragen mehr offen sein“, sagen die VUFO-Mitarbeiter. Ihre am Nachmittag erhobenen Fälle fließen in Deutschlands größte Datenbank der Unfallerhebung und -rekonstruktion ein. „So genau, wie wir es machen, können es nur wenige: Uns haben schon Unfallforscher aus Indien, China und Brasilien über die Schulter geschaut“, sagt Uli Uhlenhof. Seine Mitarbeiter räumen noch das
Auto aus. Dann ist Schichtende.