"Das Tempo muss steigen"
Deutschland steht vor einer gewaltigen Herausforderung: Der Verkehr muss nachhaltiger werden. Ob das gelingt, zeigt der ADAC Mobilitätsindex. Die Kernaussage: Es gibt kaum Fortschritte.
Die Entwicklung der Mobilität ganzheitlich bewerten, von ihren Auswirkungen auf Klima und Umwelt über Verkehrssicherheit und Bezahlbarkeit bis zur Zuverlässigkeit – dieses Ziel verfolgt der erste ADAC Mobilitätsindex. Und zeigt so, ob der Verkehr in Deutschland tatsächlich nachhaltiger wird.
So breit wie dieser Ansatz, so vielfältig und kompetent war auch die Runde, mit der ADAC Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand über die Ergebnisse dieses neuen Instruments zur Beurteilung von Fort- oder Rückschritten beim Verkehr diskutierte.
Ina Brandes, Ministerin für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (CDU), brachte die Perspektive der Bundesländer ein. Berthold Huber, als Vorstand für den Personenverkehr bei der Deutschen Bahn zuständig, sprach über die Herausforderungen, die der öffentliche Verkehr in Deutschland zu bewältigen hat. Und das Bundesverkehrsministerium wurde vom parlamentarischen Staatssekretär Michael Theurer (FDP) vertreten.
„Der Verkehr wird an der Dekarbonisierung nicht vorbeikommen“
Michael Theurer (FDP), parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium©dpa/Britta Pedersen
Wie groß der Handlungsdruck, gerade beim Klimaschutz, im Verkehr ist, machte Michael Theurer deutlich. Er sagt: "Der Verkehr hat noch nichts geleistet, zumindest nicht im Gesamtsektor. Aber alle Sektoren müssen liefern, da wir Klimaneutralität bis 2050 vereinbart haben. Deshalb wird der Verkehr an der Dekarbonisierung nicht vorbeikommen."
Klimaschutz mitdenken
Das sieht auch ADAC Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand so. Und nimmt die Verbraucherinnen und Verbraucher in die Pflicht. Sie müssten ihr Verhalten ändern, daran führe kein Weg vorbei. Und er wird konkret: "Wer einen Neuwagen kaufen will, sollte sich alternative Antriebe anschauen, wer seine Wohnung wechselt, auf die Anbindung an den öffentlichen Verkehr und die Entfernung zum Arbeitsort achten."
„Das Tempo der Veränderung muss steigen, es braucht mehr Lademöglichkeiten für E-Autos und eine bessere Radinfrastruktur.“
Gerhard Hillebrand, ADAC Verkehrspräsident©ADAC/Peter Neusser
Doch auch die Politik muss liefern, so Hillebrand: Das Tempo der Veränderung müsse steigen, es brauche mehr Lademöglichkeiten für E-Autos und eine bessere Radinfrastruktur.
Für Berthold Huber kann kein Verkehrsmittel, keine Maßnahme für sich allein den Verkehr nachhaltiger machen. Nur miteinander könnten die Verkehrsträger die Probleme lösen, so der Bahn-Vorstand. Schließlich könne der Zug nicht bis in jeden Winkel fahren.
Schnellere Baugenehmigungen, bessere Bürgerbeteiligung
Um in Konkurrenz zum privaten Auto zu bestehen, sei vor allem eins nötig: Ein dichter Takt, also bessere Verfügbarkeit von öffentlicher Mobilität. Schließlich, so Huber, haben die allermeisten Menschen den Autoschlüssel stets griffbereit. "Die Leute dürfen höchstens 15 bis 30 Minuten warten. Sonst verliert man gegen das Auto und verliert den Kampf um die Kunden."
Einigkeit herrscht beim Thema Baugenehmigung und Bürgerbeteiligung: Da müsse Deutschland besser und schneller werden. Berthold Huber hat ein praktisches Beispiel aus Nürnberg mitgebracht. Dort will die Bahn ein neues Ausbesserungswerk bauen – und stößt auf erbitterten Widerstand der Anwohner. "Jeder will mehr Schiene – aber die Werkstatt will keiner", so Hubers ernüchterndes Fazit. Das Ina Brandes sofort auf den Plan ruft, die dem Bahnvorstand einen Umzug nach NRW mit seiner Werkstatt anbietet.
„Es wird zu viel Papier in der Gegend herumgeschickt. Neue Bahnstrecken dauern 24 Jahre, ein Brücken-Ersatzneubau im Schnitt 10 Jahre. Das ist zu viel.“
Ina Brandes, Verkehrsministerin Nordrhein-Westfalen©Land NRW/Ralph Sondermann
Allerdings kann auch NRW-Verkehrsministerin Ina Brandes nicht behaupten, dass in ihrem Bundesland in Sachen Planung paradiesische Zustände herrschen. Bei der Digitalisierung gibt es noch viel zu tun: "Es wird zu viel Papier in der Gegend herumgeschickt. Neue Bahnstrecken dauern 24 Jahre, ein Brücken-Ersatzneubau im Schnitt 10 Jahre. Das ist zu viel."
Dass auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit im Verkehr vielfältige Zielkonflikte lauern, bestreitet niemand in der Runde. Enormes Konfliktpotential bringt etwa der Preis der Mobilität mit sich – derzeit an den unablässig steigenden Spritpreisen und den Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger deswegen zu beobachten.
Entlastung für Verbraucherinnen und Verbraucher
Entlastung kündigt Michael Theurer an: Die EEG-Umlage werde die Ampelkoalition früher als ursprünglich geplant senken, Finanzminister Christian Lindner könne sich eine höhere Pendlerpauschale vorstellen. Und mittelfristig soll ein Klimageld an die Bürgerinnen und Bürger ausgezahlt werden. Es soll höhere Kosten ausgleichen, wenn auch der Verkehr in den Treibhausgashandel einbezogen wird. Die Einführung eines solchen Handelssystems sei erforderlich, sagt Theurer: "Wo CO₂-Handel läuft, werden die Klimaziele erreicht."
„Wir denken zu oft aus dem Prenzlauer Berg in Berlin heraus, das ist aber nicht die Realität von 35 Millionen Menschen, die in Städten und Dörfern unter 20.000 Einwohner leben.“
Berthold Huber, Vorstand für Personenverkehr, Deutsche Bahn AG©dpa/Bernd von Jutrczenka
Mit Blick auf die aktuelle Eskalation in der Ukraine weist er aber auch auf die Grenzen staatlichen Handelns hin. "Wenn sich die Welt ändert, dann wird sich das nicht aufhalten lassen. Der Staat kann Weltmarktpreise nicht wegsubventionieren." Steigenden Spritpreisen zum Trotz: Der Pkw wird in der Mobilität weiter eine große Rolle spielen, gerade auf dem Land, so ADAC Verkehrspräsident Hillebrand.
Die Menschen in ländlichen Räumen nicht vergessen: Dafür wirbt auch Berthold Huber von der Bahn. Und gibt zu: "Wir denken zu oft aus dem Prenzlauer Berg in Berlin heraus, das ist aber nicht die Realität von 35 Millionen Menschen, die in Städten und Dörfern unter 20.000 Einwohner leben." Er hofft auf autonome Fahrzeuge, die dem ÖPNV ganz neue Möglichkeiten eröffnen könnten.
„Das Auto wird an der einen oder anderen Stelle Platz abgeben müssen. Aber nicht mit schnell aufgemalten Fahrradwegen, sondern mit klugen, lokal angepassten Konzepten.“
Gerhard Hillebrand, ADAC Verkehrspräsident©ADAC/Peter Neusser
Zurück in die nähere Zukunft: In Nordrhein-Westfalen will Ina Brandes ein Viertel des Verkehrs mit dem Fahrrad abwickeln. Dafür will sie in die Infrastruktur investieren und dabei auch die Sicherheit erhöhen.
ADAC Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand begrüßt das. Beobachtet aber auch immer mehr Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmenden. Seine Schlussfolgerung: "Das Auto wird an der einen oder anderen Stelle Platz abgeben müssen. Aber nicht mit schnell aufgemalten Fahrradwegen, sondern mit klugen, lokal angepassten Konzepten."
Wie wichtig gute Infrastruktur ist – im Kleinen wie im Großen – darauf weist schließlich Staatssekretär Michael Theurer hin. So habe die neue ICE-Strecke von München-Berlin dazu geführt, dass der Flugverkehr zwischen Nürnberg und Berlin eingestellt wurde.
Es wird allerdings noch viel mehr solche Erfolge brauchen, um die Mobilität in Deutschland wirklich nachhaltig zu machen. Ob das gelingt, werden die nächsten Ausgaben des ADAC Mobilitätsindex zeigen.