"Der Bußgeldkatalog muss überarbeitet werden"

Im Interview erklärt ADAC Verkehrspräsident Hillebrand, warum er Punkte für Falschparkende nicht richtig findet und psychologische Schulungen eine Alternative zu Fahrverboten sind.
2021 wurde der neue Bußgeldkatalog beschlossen. Nachdem die ursprünglich beschlossene Verschärfung der Fahrverbotsgrenzwerte bei Tempoverstößen zurückgenommen worden war, einigte man sich auf eine deutliche Erhöhung der Bußgelder. Die Diskussion um angemessene Strafen geht weiter, auch auf dem 60. Deutschen Verkehrsgerichtstag in Goslar (18. bis 19. August). ADAC Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand leitet den Arbeitskreis, der sich damit beschäftigt, ob die Rechtsfolgen bei Ordnungswidrigkeiten angemessen sind.
ADAC Redaktion: Wer länger als 15 Minuten in zweiter Reihe parkt, zahlt 85 Euro und bekommt einen Punkt. 55 Euro ohne Punkt kostet es, ein Auto unberechtigt auf einem Behindertenparkplatz abzustellen. Ist das verhältnismäßig?
Gerhard Hillebrand: Das ist natürlich nicht verhältnismäßig. Es gibt einige Beispiele, die zeigen, dass die Reform des Bußgeldkatalogs nicht wirklich gelungen ist. Besonders problematisch ist es für Lieferdienste in Innenstädten, die ja irgendwo halten müssen. Auf dem Schutzstreifen für Radfahrende ist das verboten, bei Behinderung gibt es neben einem Bußgeld auch einen Punkt. Auch kurzes Parken in zweiter Reihe kostet mit Behinderung, die eigentlich dabei immer vorliegt, 70 Euro und einen Punkt. Das ist zu hart.
Warum?
Bei Parkverstößen sind meiner Meinung keine Punkte erforderlich. Da muss man das ganze System überdenken. Noch ein Beispiel: Wenn man Radfahrende überholt, muss man innerorts 1,5 und außerorts 2 Meter Abstand halten. Das ist natürlich in der Praxis oft schwierig, aber das Gefährdungspotenzial ist sehr hoch. Hier beträgt das Verwarnungsgeld 30 Euro und bei Sachbeschädigung 35 Euro. Fahren ohne Gurt kostet auch nur 30 Euro, Motorradfahren ohne Helm 15 Euro – dabei ist das beides sehr gefährlich. Da passt vieles nicht. Meiner Meinung nach muss man den Bußgeldkatalog insgesamt überarbeiten.
„Bei Verkehrsüberwachung darf es nicht um Mehreinnahmen gehen.“
ADAC Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand
Sind die Bußgelder in Deutschland angemessen? Im Ausland zahlen Verkehrssünder oft mehr.
Diese Forderung hört man immer wieder. Aber mehr Regeltreue erreicht man viel besser mit einer angemessenen Überwachung, mehr Kontrollen an Stellen, wo es für die Verkehrssicherheit wichtig ist. Außerdem wirken Fahrverbote für schwere Verfehlungen und das austarierte Punktesystem viel besser. Dieser Dreiklang muss gesehen werden, nicht nur die Bußgeldhöhe isoliert.
Mehr Kontrollen sind bei der Personaldecke der Polizei sicher schwierig. Was halten Sie davon, mehr Blitzer aufzustellen oder Privatfirmen einzubeziehen?
Das muss ausschließlich eine Aufgabe der Polizei und der Verwaltungsbehörden bleiben. Für ausreichend Personal bei der Polizei für die Verkehrsüberwachung sind die Länder zuständig. Ich bin strikt dagegen, hier private Firmen einzusetzen. Wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund zu stellen, lässt sich nicht mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht vereinbaren. Denn das soll mehr Verkehrssicherheit gewährleisten. Da darf es nicht um Mehreinnahmen gehen.

In Deutschland gibt es fast 5000 fest installierte Blitzer. Brauchen wir mehr?
Nein. Egal ob stationäre oder mobile Geräte, Blitzer müssen da aufgestellt beziehungsweise genutzt werden, wo sie sinnvoll sind. Also an Unfallschwerpunkten und überall dort, wo es um Verkehrssicherheit geht. Wenn im Bereich von Schulen oder Kindergärten geblitzt wird, ist das für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar. Schwer zu vermitteln sind dagegen Messungen nachts um 2 Uhr auf einer kaum befahrenen Autobahn.
Bei Verkehrsstraftaten wie Fahrerflucht oder Nötigung wird die Geldstrafe nach den wirtschaftlichen Verhältnissen bemessen. Wäre das auch bei Bußgeldern sinnvoll?
Das passiert bei Bußgeldern im Moment nur in Ausnahmefällen. Mehr ist kaum zu leisten, da es sich um Massendelikte handelt. Darauf weist die Richterschaft zu Recht hin. Bei uns in Schleswig-Holstein gibt es die Rader Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal mit stationären Blitzern in beiden Fahrtrichtungen. Alle Einsprüche muss ein Amtsrichter in Rendsburg abarbeiten, der macht Termine im Zehn-Minuten-Takt. Da ist schon eine einzelfallgerechte Entscheidung äußerst schwierig, ganz zu schweigen von der Ausforschung der Vermögensverhältnisse.
Anwälte berichten, dass in Bayern und Baden-Württemberg Behörden und Gerichte bei Fahrverboten oft strenger sind als in Nordrhein-Westfalen. Wie kann das sein, der Bußgeldkatalog gilt doch bundesweit?
Auch bei uns im Norden kommt man vielleicht leichter als in Bayern um ein Fahrverbot herum. Einerseits brauchen Bußgeldrichter ausreichend Entscheidungsspielraum. Aber für die Ausnahmen beim Fahrverbot fehlt ein verbindlicher, nachvollziehbarer und bundesweit gültiger Maßstab für Bußgeldbehörden und Richter. Also überprüfbare Kriterien, nach denen von einem Fahrverbot abgesehen wird.
Um was für Fälle geht es?
In der Regel um Geschwindigkeitsüberschreitungen. Wenn ein Außendienstmitarbeiter beruflich auf den Führerschein angewiesen ist, kann man als Bußgeldstelle prüfen, ob er Urlaub nehmen kann, sein Auto wirklich immer braucht und ob er Ersttäter ist. Der Wiederholungstäter sollte eine verkehrspsychologische Maßnahme absolvieren können, damit man vom Fahrverbot absehen kann. Bundesweit einheitliche Kriterien würden allen mehr Sicherheit geben.
Es gibt in Deutschland ein System mit Bußgeldern, Punkten und Fahrverboten bei Verkehrsverstößen. Auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar werden auch Schulungen durch Psychologen als Alternative zu Fahrverboten diskutiert. Was halten Sie davon?
Es geht um Regeltreue. Was Menschen im Kindergarten, in der Schule oder in der Fahrschule lernen, schleift sich im Laufe eines Autofahrerlebens ab. Da sind dann Korrekturmaßnahmen erforderlich. Ich kann aus meiner Erfahrung als Verkehrsrechts-Anwalt sagen, dass Schulungen durch Verkehrspsychologen geeignet sind, die sogenannte Denkzettel- und Besinnungs-Maßnahme Fahrverbot zu kompensieren. In Einzelschulungen werden die Fehler und Verhaltensalternativen aufgezeigt. Meine Mandanten kamen alle geläutert zurück und haben gesagt, dass sie da wirklich etwas mitgenommen haben. Vorher waren sie sicher, dass sie genau wissen, worauf es im Verkehr ankommt. Den Effekt solcher Schulungen merkt man dann auch in der Verhandlung, wenn sie dem Richter mit eigenen Worten schildern, was sie da erlebt haben. Das wirkt aus meiner Sicht besser als ein Monat Fahrverbot.
„Eine Schulung durch einen Psychologen wirkt besser als ein Monat Fahrverbot.“
Gerhard Hillebrand, ADAC Verkehrspräsident
Solche Schulungen merkt man ja auch finanziell.
Ja, das kostet richtig Geld. Ich sage meinen Mandanten, dass sie vor Gericht auch erzählen sollen, dass sie mehrere Hundert Euro ausgegeben haben, obwohl sie ja im Moment keine Garantie haben, dass der Richter dann vom Fahrverbot absieht. Das ist derzeit eine Art Hoffnungskauf. Meiner Meinung nach kann man auch überlegen, dass man das Fahrverbot auf Bewährung aussetzt und erst mal eine verkehrspsychologische Maßnahme oder ein Fahrtraining anordnet.
Welche Impulse erhoffen Sie sich vom Verkehrsgerichtstag für den Gesetzgeber?
Ich hoffe, dass wir sinnvolle Anregungen geben können, wie man auch in Massenverfahren mehr Einzelfallgerechtigkeit hinbekommt, wie das gesamte System überarbeitet werden kann, und wie man mit der Höhe der Geldbußen und den Punkten eine ausgewogene Regelung erreicht. Und ich hoffe, dass der Gesetzgeber verkehrspsychologische Maßnahmen als Alternative zu Fahrverboten prüft. Die spielen in der Praxis im Moment leider eine untergeordnete Rolle. Aber sie sind sehr sinnvoll für mehr Regeltreue und damit mehr Sicherheit im Straßenverkehr.