"Die Ziele der Koalition sind sehr ambitioniert"
Autos ohne Benzin und Diesel. Busse ohne Fahrer. Eine digitale Revolution. Professor Henning Kagermann, Berater der Bundesregierung zur Mobilität, sagt, was Fachleute jetzt empfehlen.
Wie lässt sich Mobilität bezahlbar, nachhaltig und klimafreundlich gestalten? Antworten auf diese Frage versuchte die "Nationale Plattform Zukunft der Mobilität (NPM)" seit 2018 zu geben. Geleitet wurde sie von Prof. Henning Kagermann, dem ehemaligen Vorstandssprecher des Firmensoftware-Spezialisten SAP.
240 Experten, darunter auch Vertreter des ADAC, waren an den Diskussionen beteiligt. Im ADAC Interview berichtet Henning Kagermann, worum besonders gerungen wurde. Und was jetzt anders werden sollte.
ADAC: Herr Kagermann, Sie waren Unternehmer – wie schwer fiel Ihnen der Wechsel in die Rolle des Politikberaters?
Henning Kagermann: Es dauert ein bisschen, bis man sich daran gewöhnt hat, nicht mehr alles selbst durchsetzen zu können. Ich musste lernen, dass die Art der Entscheidungsfindung, die man aus der Wirtschaft kennt, nicht auf die Verwaltung zu übertragen ist. Andererseits hatte ich es bei dieser Aufgabe mit vielfältigen und spannenden Themen, Experten und Entscheidungsträgern zu tun. Das ist für einen neugierigen Menschen natürlich schön.
War die von Ihnen geleitete Nationale Plattform Zukunft der Mobilität unabhängig von Vorgaben aus der Politik?
Wir hatten einen klaren Auftrag: Wir sollten Handlungsempfehlungen entwickeln, um auf dem Feld der Mobilität die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und Arbeitsplätze zu sichern – und gleichzeitig eine bezahlbare, nachhaltige und klimafreundliche Mobilität zu ermöglichen. Ansonsten haben wir völlig unabhängig agiert. Also galt: klarer Auftrag, unabhängige Umsetzung.
Sie haben für die NPM 240 Fachleute mit weit auseinanderliegenden Interessen an einen Tisch gebracht, darunter vermutlich auch viele Technokraten. Hat es da nicht häufig gekracht in den Arbeitsgruppen?
Wir haben oft miteinander gerungen, die Diskussionen waren kontrovers und haben alle Positionen widergespiegelt, die wir auch in der Bevölkerung erleben. Mit der Zeit wurde es aber harmonischer, weil wir unsere Positionen aufeinander abgestimmt haben. Bei einigen Punkten haben wir aber keine eindeutigen Lösungen gesucht, sondern Argumentationslinien für die Politik herausgearbeitet – sie muss am Ende schließlich die Richtung vorgeben.
Haben Sie sich bei Ihren Überlegungen am Machbaren orientiert – oder gab es auch Raum für Visionen?
Unser Zeithorizont war das Jahr 2030. Da haben Sie nicht viel Platz für Visionen, da geht es um umsetzbare Empfehlungen und bereits vorhandene Technologien. Die Zielvorgaben etwa bei CO₂-Reduktionen sind in den vergangenen Jahren ja sogar verschärft worden.
Wie bewerten Sie die Rolle des ADAC in der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität?
Die Vertreter des ADAC, zunächst Präsident August Markl, jetzt sein Nachfolger Christian Reinicke, waren wichtige Mitglieder im Lenkungskreis. Der ADAC kann die Dinge, über die wir sprechen, für seine Mitglieder übersetzen, wir müssen die Menschen ja auch begeistern. Und die Hinweise aus dem ADAC zur Praxistauglichkeit mancher Ideen waren wichtig. Einmal ging es um Oberleitungen an Autobahnen, über die Elektro-Lkw mit Strom versorgt werden sollen, da fragte Herr Dr. Markl: "Wie sollen denn da unsere Rettungshelikopter landen?"
Im Verkehrssektor ist der CO₂-Ausstoß in den letzten Jahren nicht gesunken. Wie kann das besser werden?
Der Verkehr hat enorm zugenommen – und dieses Wachstum hat alle Verbesserungen aufgefressen. 95 Prozent des CO₂-Ausstoßes in diesem Bereich kommen von Pkw und Lkw, daran wird sich in den nächsten zehn Jahren auch nichts ändern.
„Im Koalitionsvertrag steht das Ziel von 15 Mio. E-Autos bis 2030. Das ist anspruchsvoll.“
Prof. Henning Kagermann
Deshalb gingen wir bisher davon aus, dass wir bis 2030 14 Millionen E-Autos brauchen, weil sich der Gesamtbestand von rund 48 Millionen Fahrzeugen – wie wir ihn heute haben – wahrscheinlich nicht wesentlich reduziert. Im Koalitionsvertrag der neuen Regierung steht sogar das Ziel 15 Millionen E-Autos bis 2030. Zum Ende der 2020er-Jahre wären dafür circa 85 bis 90 Prozent aller jährlichen Neuzulassungen nötig. Das ist anspruchsvoll.
Was würde das für den CO₂-Ausstoß bei Pkw bedeuten?
Bezogen auf die 14 Millionen E-Autos auf der Straße, von denen wir bisher in der NPM für 2030 ausgingen, sparen wir etwa 22 Millionen Tonnen CO₂ im Jahr. Das ist aber erst die Hälfte von dem, was die Pkw zur CO₂-Einsparung beitragen müssen. Der Rest muss also aus dem Bestand kommen. Der Beitrag von Effizienzsteigerungen und durch alternative Kraftstoffe wird gering sein. Bleiben also im Wesentlichen die Hebel Vermeidung und Verlagerung. Verlagerung auf den öffentlichen Verkehr, Fahrradfahren, und bei der Vermeidung setze ich vor allem auf Digitalisierung. Es muss leichter werden, auf umweltfreundliche Verkehrsmittel umzusteigen oder aus der Distanz zu arbeiten.
Sie gehen davon aus, dass im Pkw-Bereich dem Elektroantrieb die Zukunft gehört?
Ganz klar. Das sieht man daran, wie sich die Hersteller aufstellen. Die Reichweiten sind da, die Batterietechnologie hat sich besser entwickelt als gedacht, die Modellvielfalt kommt.
In einem Nebensatz haben Sie eben gesagt, mit alternativen Kraftstoffen könne die erforderliche CO₂-Reduktion nicht erreicht werden. Warum?
Im Straßenverkehr wird es uns in den nächsten fünf bis zehn Jahren tatsächlich nicht gelingen, in relevantem Umfang alternative Kraftstoffe einzusetzen. Zurzeit haben wir nicht die Großanlagen, nicht genug erneuerbaren Strom, und drittens brauchen diese Investitionen einfach Zeit. Für einen längeren Zeitraum will ich diese Technologie aber auch für den Straßenverkehr nicht ausschließen.
Ist für 14 bis 15 Millionen batterieelektrische Fahrzeuge sowie für alle anderen Sektoren der Wirtschaft genug erneuerbarer Strom da?
Ja, das glauben wir schon. Aber es gibt zunehmende Nutzungskonkurrenz um erneuerbaren Strom. Deshalb müssen wir auf die Technologien setzen, die am effizientesten sind. Und da ist die Batterieelektrik eben bei Weitem am effizientesten.
Sie haben bei einem großen IT-Unternehmen gearbeitet. Warum klappt die Digitalisierung bei uns in Deutschland nicht? Und wie lässt sich das Problem beheben?
In der öffentlichen Verwaltung – das muss man fairerweise sagen – reicht die Ausstattung nicht, sowohl was Computer und IT-Infrastruktur angeht als auch beim Personal. Es gibt einfach nicht genug Software- und IT-Experten. Die sind schwer zu finden und wenn, dann sind sie teuer. Und selbst wenn diese beiden Herausforderungen gemeistert sind, bleibt ein großes Problem: Verteilte Zuständigkeiten zwischen Ländern, Kommunen, Behörden und Bund schaffen oft Insellösungen. Es gibt keine zentrale Instanz, die die Standards, die Software-Architektur, die Schnittstellen zwischen den Programmen verbindlich vorgibt. Die braucht man aber unbedingt.
Und wie sieht es in der Wirtschaft aus?
Für Unternehmen haben Daten einen ökonomischen und einen strategischen Wert. Deshalb ist man zunächst zurückhaltend, wenn es ums Daten-Teilen geht. Das hat sich in den letzten Jahren aber deutlich verbessert. Der Mobility Data Space ist dafür ein hervorragendes Beispiel.
Es hat fünf Jahre gedauert, bis man sich auf einen einheitlichen Stecker für E-Autos geeinigt hat. Warum?
Da geht es um internationale Standards und Normen, ein anspruchsvolles und manchmal auch zeitraubendes Thema. Sie müssen schließlich nicht nur die deutsche, sondern auch die europäische und am Ende die globale Ebene mitdenken. Im Bericht unserer Arbeitsgruppe dazu ist von Zeitfenstern von bis zu zehn Jahren die Rede. Da werde ich natürlich ein bisschen unruhig und frage: Müssen wir hier nicht schneller werden? Aber die Komplexität ist auf diesem Gebiet eben auch enorm.
Wie sieht eine deutsche Großstadt in Zukunft aus?
Schauen Sie ins Reallabor Hamburg, das die NPM initiiert hat. Dort gibt es bedarfsgerechte Shuttles. Damit werden wir weniger Autos in der Stadt haben, damit wird der Verkehr etwas reduziert. Klar, mit einem Fahrer an Bord ist der Preis im Moment noch nicht wirklich signifikant günstiger. Wenn wir die Shuttles aber autonom fahren lassen, geht der Preis um etwa die Hälfte runter. Urplötzlich wird es hochattraktiv. Dann haben wir eine bedarfsgerechte Mobilität. Dann sind wir flexibel, unabhängig, es ist bezahlbar, es ist umweltfreundlich. Da müssen wir hin.
Wir sehen gerade bei der Corona-Pandemie, dass Wissenschaftler eine Krise schon Monate vorher prognostizieren, aber nicht reagiert wird. Vor dem Klimawandel wird seit Jahrzehnten gewarnt. Befürchten Sie, dass weiter zu wenig passiert?
Nein, diese Sorge habe ich nicht. Wir haben klare Klimaziele, und wenn sie nicht erreicht werden, dann drohen Strafzahlungen. An der einen oder anderen Stelle wird man also Entscheidungen treffen müssen, mit denen nicht jede Interessengruppe einverstanden ist.
Allerdings muss ich zugeben, dass wir bisher nur schrittweise Verbesserungen hatten. In den nächsten zehn Jahren müssen wir deutliche Veränderungen vornehmen, sowohl bei der Technologie als auch beim Verhalten. Darum kommen wir nicht herum.
„Der Weg ist noch weit, aber es gibt Licht am Ende des Tunnels.“
Prof. Henning Kagermann
Diese Transformation macht vielen Menschen Sorgen, sie denken eher an Einschränkungen und an Verzicht als an eine Hoffnung auf die Zukunft.
Ich gehe davon aus, dass die Mobilität insgesamt attraktiver wird, und davon müssen wir auch die Menschen überzeugen. Wenn am Ende ein besserer Zustand herrscht, dann schafft das Vertrauen, macht das Mut, und man ist bereit, gewisse Einschränkungen für eine gewisse Zeit hinzunehmen. Wenn Sie Angst haben, dann gehen Ihre Energien runter, und Sie kommen keinen Berg hoch und über keine schwankende Brücke.
Was halten Sie von den Plänen der neuen Regierung rund um die Mobilität, besonders mit Blick auf E-Mobilität und Klimaschutz?
Die im Koalitionsvertrag genannten Ziele sind sehr ambitioniert, machen aber den Stellenwert des 1,5-Grad-Klimaziels für die neue Regierung deutlich. Damit wir die Klimaziele im Verkehr bis 2030 erreichen können, dürfen wir uns aber nicht nur auf die jetzt anvisierten 15 Millionen E-Fahrzeuge konzentrieren, sondern es braucht auch Fortschritte in der Bestandsflotte und noch mehr im Schwerlastverkehr.
Woran messen Sie, ob wir auf dem richtigen Weg sind?
Mit Zahlen hinterlegte Zielmarken sind das eine. Das andere ist, dass die Menschen wissen: Ja, der Weg ist noch weit, aber es gibt Licht am Ende des Tunnels.