"Wir stehen vor einem Quantensprung"

Portrait von Frank Petznick im Interviewformat
Frank Petznick, Leiter der Geschäftseinheit Fahrerassistenzsysteme beim Autozulieferer Continental© Continental [M]

Auf der IAA 2021 finden zahlreiche Veranstaltungen zum autonomen Fahren statt. Der ADAC sprach vorab mit Frank Petznick, Experte für dieses Thema beim Autozulieferer Continental, wie gut die deutschen Hersteller auf die Zukunft des Autofahrens vorbereitet sind.

Das Themenspektrum auf der IAA 2021 in München reicht von künstlicher Intelligenz in Fahrzeugsystemen über die mobilitätsgerechte Gestaltung von Städten bis hin zum praxistauglichen Parkhaus für autonome Fahrzeuge. Frank Petznick, Leiter der Geschäftseinheit Fahrerassistenzsysteme beim Autozulieferer Continental, kann erklären, wie weit die Technik in Deutschland ist, in welchen Bereichen es noch Probleme zu lösen gibt und was die Teslas und Waymos dieser Welt eventuell besser machen.

ADAC Redaktion: Herr Petznick, das Thema autonomes Fahren ist in der Öffentlichkeit seit Jahren sehr präsent, die Menschen verknüpfen große Erwartungen damit. Was ist heute noch Wunsch und was schon Wirklichkeit?

Mensch-Maschine-Interaktion für autonome Fahrzeuge
Autonomer Elektro-Kleinbus: Der People Mover hat zur Sicherheit noch einen Fahrer an Bord© Continental

Frank Petznick: Die großen Erwartungen vom Anfang hat man inzwischen relativieren müssen. Denn es hat sich herausgestellt, dass sehr viel mehr Technik notwendig ist, damit ein Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr autonom fahren kann. Auf der anderen Seite gibt es Mobilitätsanbieter, die in bestimmten, abgegrenzten Bereichen bereits mit Fahrzeugen autonom fahren. Wir alle kennen die Bilder von den mit einer Vielzahl an Sensoren ausgerüsteten kleinen Bussen, die versuchen, eine gewisse Autonomie darzustellen – noch bei langsamen Geschwindigkeiten und überwiegend mit Sicherheitsfahrer an Bord. Ich glaube, der Pkw-Massenmarkt und diese Nischenanwendungen bewegen sich aufeinander zu. Das ist der Punkt, an dem wir heute mit der Technik stehen.

Natürlich steht und fällt alles mit der Frage, was der Gesetzgeber zulässt. Was dürfen wir da erwarten?

In Deutschland haben wir, und ich begrüße das sehr, seit Ende Mai ein Gesetz, das hochautomatisiertes Fahren auf Level 3 auf der Autobahn und auf Level 4 in Nischenanwendungen erlaubt. Ich hoffe, dass damit der gesetzgebende Prozess auf europäischer und internationaler Ebene beschleunigt werden kann. Damit wir es schaffen, mehr und mehr Automatisierung ins Fahrzeug zu bringen. Hier sind wir in Deutschland auf dem Weg, wieder in eine internationale Spitzenposition zu kommen.

Wie unterscheiden sich Level 3 "Hochautomatisiertes Fahren" und Level 4 "Vollautomatisiertes Fahren" denn konkret in der Praxis?

Ich bin mit der Begrifflichkeit nicht wirklich glücklich, denn die Trennung zwischen den Leveln ist oft unscharf. Sie können ein Fahrzeug haben, das auf Level 4 einparken kann, aber dasselbe Fahrzeug kann nicht auf Level 4 durch die Stadt fahren. Es kommt also immer auf die Situation und den Anwendungsfall an.

Manchen Spurhalteassistenten schaltet man am liebsten gleich aus, weil er ungenau ist und beim Fahren zunehmend nervt. Das schafft nicht unbedingt Vertrauen in die Automatisierungs-Technik…

Es ist durchaus Raum vorhanden, um die Systeme nachzuschärfen. Ich glaube, wir brauchen eine Bewertung der Systemgüte, um den Kunden zu erklären, was Spurhalteassistenten leisten können, und wie gut ein System im Vergleich mit anderen funktioniert. Da ist zum Beispiel auch der ADAC gefragt. Ich glaube, in der Zukunft werden solche Systeme eine Kaufentscheidung ganz maßgeblich mit beeinflussen.

Der ADAC testet solche Systeme jeden Tag. Und stellt fest, dass sie mitnichten immer perfekt arbeiten. Kaufen die Hersteller zu billig ein, oder ist Perfektion an der Stelle nicht zu haben?

Naja, der menschliche Fahrer ist ja auch nicht perfekt. Wir bei Continental glauben, dass die Funktionsweise und Leistung der Systeme immer weiter verbessert werden kann, indem wir die einzelnen Stärken der verschiedenen Sensoren im Fahrzeug besser nutzen. Da wird auch künstliche Intelligenz zunehmend eine Rolle spielen. Trotzdem muss man sagen: Die Systeme werden nie komplett fehlerfrei und perfekt sein, aber sie werden irgendwann besser sein als ein Mensch. Und somit wird die Fehlerquote tolerierbar.

Ingenieure sagen manchmal, ein System dürfe in einem von einer Million Fälle versagen, aber nicht häufiger. Ist die Zahl korrekt?

In den Regularien gibt es keine Zahl für die Fehlerwahrscheinlichkeit. Ein Kriterium kann sein, dass über tausende von Kilometern nichts passieren darf. Aber diese Kriterien sind jeweils herstellerspezifisch.

Bei Spurhalteassistenten ist die Fehlerquote sehr viel höher als eins zu einer Million. Da fragt man sich, wieso der Gesetzgeber das überhaupt zugelassen hat.

Weil ein Spurhalteassistent ein System ist, bei dem immer noch der Fahrer in der Verantwortung ist und nicht die Hersteller. Der Sicherheitsgewinn ist unbestritten, auch wenn Systeme beispielsweise in unübersichtlichen Baustellenbereichen mit Fahrbahnverschwenkungen auf Autobahnen durchaus an ihre Grenzen kommen.

Wir alle kennen Videos, in denen Teslas im Autopilot-Modus zu sehen sind, während sich der Fahrer auf die Rückbank schlafen legt. Ist das nicht verantwortungslos?

Abgesehen davon, dass es auch mit einem Tesla in den USA nicht erlaubt ist, so zu fahren, zeigt das den Aufklärungsbedarf, der hier herrscht. Es ist wichtig, zu wissen, was ein System kann und was nicht. Autofahrerinnen und -fahrer sollten sich nicht in Sicherheit wiegen, nur weil ein System sich Autopilot nennt. Um solchen Leichtsinn zu verhindern, scannen wir bei Continental nicht nur den Außenbereich mittels Sensoren, sondern haben auch den Fahrer und den Innenraum stark im Blick. Man kann beispielsweise eingreifen, wenn festgestellt wird, dass der Fahrer anfängt auf die Rückbank zu klettern. Wir arbeiten mit unseren Kunden daran, den Fahrer ein Stück weit in seiner Verantwortung zu verpflichten. Bis wir ihn aus der Verantwortung entlassen können, dauert es noch einige Jahre.

Ich komme noch mal auf die Ausgangsfrage zurück: Haben sich die Autohersteller überschätzt mit ihren Ankündigungen zum autonomen Fahren?

Cockpit der Zukunft beim Autonomen Fahren
Gute Unterhaltung: So könnte das Cockpit eines vollautonomen Pkw aussehen© Continental

Wo man sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hat, das war die Zeitschiene, mit der man operiert hat. 2020 ist ja ganz offensichtlich nicht das Jahr der Level-5-Autos geworden. Trotz des Zeitverzugs werden sich automatisierte Systeme aber im Markt durchsetzen, weil sie einen Mehrwert für den Kunden darstellen. Und auch deswegen, weil jedes System, das heute auf der Straße ist, dazu beiträgt, die Technik immer besser zu machen. Schaut man nach China, Japan, Singapur oder in die USA – auf allen diesen Märkten arbeiten wir mit Autoherstellern zusammen –, sind schon viele automatisiert unterwegs.

Bei welchen Komponenten wird bei den Systemen nachgebessert?

Nicht nur die Sensorik ist entscheidend, auch die benötigten Rechenkapazitäten im Auto und die künstliche Intelligenz entwickeln sich rasant. Außerdem werden die Navigationskarten immer genauer und verzeichnen inzwischen sogar einzelne Gebäude, Ampeln und Verkehrszeichen. Insofern glaube ich, dass wir nicht mehr weit von einem Quantensprung entfernt sind in der Technologie für automatisiertes Fahren.

Apropos Quantensprung: In Phoenix, Arizona, bewegen sich die autonomen Taxis von Waymo völlig selbstständig durch den Verkehr. Wie sie sich auf Straßen mit vier, sechs und noch mehr Spuren zurecht finden, ist geradezu sensationell. Kurioserweise gibt es aber Fälle, wo ein Taxi nicht weiter weiß, nur weil zum Beispiel an einer Baustelle ein paar Pylonen aufgestellt sind. Können Sie diesen krassen Unterschied von "funktioniert sensationell" und "funktioniert gar nicht" erklären?

Zunächst mal muss man sagen, dass diese Taxis in einem definierten Stadtgebiet mit einer Ausnahmegenehmigung unterwegs sind. Technisch gesehen sind die Autos mit mehr Sensoren ausgestattet, als man später überhaupt benötigen würde. Außerdem greifen die Fahrzeuge auf zentimetergenaue, hochpräzise Karten zurück, am besten mit der Möglichkeit von Echtzeit-Updates über Mobilfunk. Dass solch ein autonomes Taxi in eine Situation gerät, wo es dann doch nicht weiter weiß, ist zurzeit nicht ausgeschlossen. Solche Grenzfälle wird es noch eine ganze Weile geben. Man muss dafür Sorge tragen, dass der Grenzfall nicht zum Problem für die anderen Verkehrsteilnehmer wird, das Auto in einen gesicherten Stand überführt wird, und dass das System aus solch einem Grenzfall lernt.

Aber warum kann eine harmlose Pylone das Auto überhaupt aus dem Konzept bringen?

Für den Passagier im Auto und diejenigen, die so etwas in einem Video sehen, ist die Pylone ein triviales Hindernis. Für das Fahrzeug aber nicht. Es muss ja erst mal lernen, dass es Pylonen gibt, und dann, wie man mit diesen umgeht. Ich bin sicher, Waymo wird sich das ganz genau anschauen und eine Lösung finden. Beim nächsten Mal ist die Pylone dann möglicherweise schon kein Hindernis mehr für das Auto – und da das Wissen in der Flotte geteilt wird, auch für alle anderen Waymo-Wagen nicht.

Welches System der Automatisierung wünschen Sie sich persönlich als nächstes?

Den Autobahnpiloten, der das Fahren bis 130 km/h übernimmt und mich als Fahrer mal eine E-Mail schreiben lässt. Und in der Stadt: das Valet-Parken.

Vielen Dank für das Gespräch!