"Wir müssen eine Innovationsmaschine sein"

Portrait von Dr. Ariane Reinhart im Interviewformat
Dr. Ariane Reinhart ist bei der Continental AG Vorständin für die Ressorts Nachhaltigkeit und Personal© Continental AG

Im ADAC Interview spricht Ariane Reinhart, als Vorständin bei Continental für die Ressorts Nachhaltigkeit und Personal zuständig, über den kränkelnden Standort Deutschland, Reifen aus Löwenzahn und das Verhältnis zwischen Wettbewerb und Umweltschutz.

ADAC Redaktion: Wenn Sie die Nachrichten der letzten Wochen von BMW über Mercedes bis zur VW-Krise Revue passieren lassen – wie geht es dem Autostandort Deutschland?

Ariane Reinhart: Der Industriestandort Deutschland ist erkrankt, wir verlieren an Wettbewerbsfähigkeit. Energiekosten und Strompreise sind im Vergleich zu anderen Ländern zu hoch. Und wir leiden unter zu viel Bürokratie, zu wenig Digitalisierung und einem chronischen Arbeitskräftemangel.

Das klingt dramatisch.

Ich bleibe trotzdem optimistisch. Wir haben in Deutschland ein hervorragendes System der Berufsausbildung und Qualifizierung. Wenn wir es schaffen, dass genügend Menschen mit der richtigen Expertise zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, und die Rahmenbedingungen stimmen, dann werden wir auch künftig wettbewerbsfähig sein. Es geht nun darum, auf den Weg der Besserung zu kommen und nachhaltig zu gesunden.

Zur Person

Ariane Reinhart, Jahrgang 1969, stammt aus Hamburg. Die promovierte Juristin wechselte nach einer Station bei der zur UN gehörenden Internationalen Arbeitsorganisation im Jahr 1999 zum Volkswagen-Konzern und war dort meist in verantwortlicher Position für Personal zuständig. Seit 2014 ist sie Mitglied des Vorstands bei der Continental AG.

Sie sind als Vorständin für das Ressort Nachhaltigkeit zuständig. Die Continental-Homepage sieht mitunter aus, als wäre der Konzern ein ökogrüner Umweltverband. Welche Rolle spielt das Thema tatsächlich im Unternehmen?

Bei uns gilt die Formel: Nur nachhaltiges Geschäft ist Zukunftsgeschäft. Deshalb ist Nachhaltigkeit in unserer Konzernstrategie verankert, auch in Form einer Selbstverpflichtung. Wir betreiben einen sehr hohen Aufwand, um in Prozessen und Lieferketten höchste Standards einzuhalten und darüber hinauszugehen. Daran arbeiten wir täglich. Und natürlich nehmen wir auch unsere Zulieferer – bei uns im Konzern sind das Zigtausende – in die Pflicht.

Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Steuerung von Nachhaltigkeit in Firmen. Deren Erfüllung ist für uns als Unternehmen ein extrem aufwendiger bürokratischer Kraftakt. Deshalb fände ich es wichtig, dass der Gesetzgeber dies noch einmal überprüft. Denn Aufwand und Nutzen stehen nicht immer im richtigen Verhältnis.

Ganz konkret: Wie überwachen Sie Ihre Lieferanten bezüglich Einhaltung von Nachhaltigkeitsvorgaben und gesetzlicher Vorschriften, zum Beispiel beim Kautschuk für die Reifen?

Bereits bei der Lieferantenauswahl und -bewertung spielt die Erfüllung der Nachhaltigkeitsanforderungen eine Rolle. Während der Zusammenarbeit sind wir im Austausch. Wir haben ein Risikomanagement-System zur Einhaltung unserer Sorgfaltspflichten eingerichtet. Und externe Fachleute überprüfen, ob alle Prozesse die Nachhaltigkeitsstandards erfüllen.

Letztlich verfolgen wir eine Null-Toleranz-Politik: Wenn wir feststellen, dass es irgendwo Unzulänglichkeiten gibt, sprechen wir die Zulieferer an und fordern eine sofortige Verbesserung. Da geht es um alle Dimensionen der Nachhaltigkeit, also soziale, ökologische und ökonomische Fragen.

Können Sie zum Beispiel den Betreibern von Kautschukplantagen Vorgaben zum Einsatz von Pestiziden machen oder Kinderarbeit verhindern?

Wir legen großen Wert auf die Nachhaltigkeit unserer Produktionsprozesse und die Einhaltung von Umweltstandards in der gesamten Lieferkette, einschließlich des Kautschukanbaus.

Wir arbeiten eng mit unseren Zulieferern zusammen, damit beim Kautschukanbau ethische und verantwortungsvolle Praktiken eingehalten werden. Unsere direkten Zulieferer sind die Verarbeitungsbetriebe, die den Rohkautschuk, der auf Plantagen gewonnen wird, weiterverarbeiten. Die Regeln für Nachhaltigkeit werden in unserer Einkaufspolitik für nachhaltigen Naturkautschuk festgelegt, die für unsere Lieferanten sowie deren Lieferanten gilt.

Continental – mehr als Reifen

Die meisten Menschen kennen Continental als Reifenhersteller. Tatsächlich ist das 1871 in Hannover gegründete Unternehmen mit seinen weltweit rund 200.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einem Umsatz von 39,4 Mrd. Euro (2022) viel mehr als das: Es liefert Assistenzsysteme an die Autoindustrie, entwickelt Technologie fürs automatisierte Fahren oder für Head-up-Displays, programmiert Software und stellt Dienstleistungen für die Transportbranche zur Verfügung. Auch für die Landwirtschaft, im Energiemanagement und im Maschinenbau ist der Konzern tätig.

Auch der nachhaltigste Reifen verliert während der Fahrt an Profil. Als Mikroplastik landet dieser Reifenabrieb dann in der Umwelt, etwa 150.000 Tonnen jährlich allein in Deutschland. Wie gehen Sie dieses Problem an?

Ein Stapel Autoreifen in Nahaufnahme
Ein Neureifen verliert über seine Nutzungsdauer bis zu einem Kilo an Gewicht© ADAC/isp-grube.de

Wir setzen uns aktiv mit dem Thema Reifenabrieb auseinander. Nach heutigem Wissensstand wird Reifen- und Straßenabrieb immer nötig sein, um kontrollierbares und sicheres Beschleunigen und Bremsen sowie stabile Kurvenfahrten zu ermöglichen. Daher ist es unser Ziel, Abriebpartikel, die von Reifen stammen, zum einen zu verringern und zum anderen so umweltfreundlich wie möglich zu gestalten.

Deshalb entwickeln wir kontinuierlich innovative Lösungen, um die Auswirkungen auf die Umwelt zu minimieren. Dabei geht es einerseits um die Entwicklung von Reifenmischungen und Profildesigns, die langlebig sind und weniger Abrieb auf der Straße erzeugen. Andererseits investieren wir in die Forschung und Entwicklung umweltfreundlicher Materialien.

Beim Thema Abrieb ist uns aber auch wichtig, dass es verbindliche Standards und Messmethoden gibt, um die Diskussion zu versachlichen und gemeinsam in der Industrie zielgerichteter an den besten Lösungen zu arbeiten.

Sind unsere hohen Umweltstandards vorbildlich und bieten sie einen Wettbewerbsvorteil? Oder verteuern sie die Produkte und ermöglichen es denen, die die Standards unterlaufen, als Billiganbieter erfolgreich zu sein?

Als europäischer Wirtschafts- und Werteraum brauchen wir verbindliche und einheitliche Umwelt- und Nachhaltigkeitsstandards. Wir müssen aber auch kritisch hinterfragen, ob die CO₂-Belastung der Welt durch das vorbildliche Verhalten der Bürgerinnen und Bürger in der EU spürbar reduziert werden kann.

Der Effekt ist um ein Vielfaches größer, wenn China, Indien und die USA sich in der Dekarbonisierung vergleichbar stark engagieren. Deshalb sollte es unsere Rolle sein, positive Impulse zu setzen. Europa muss hier lernen noch intelligenter zu regulieren. Die Impulse dürfen nicht dazu führen, dass wir wirtschaftlich abgehängt werden, weil industrielle Wertschöpfung zu aufwendig und teuer wird.

Bei der Weltklimakonferenz in Dubai waren vor allem die CO₂-Emissionen ein Thema. Können Sie für alle Continental-Produkte den CO₂-Fußabdruck benennen?

Wir haben uns verpflichtet, bis spätestens 2050 die Wertschöpfungsketten von Continental CO₂-neutral zu gestalten. Unsere eigenen Fabriken sollen das spätestens 2040 sein.

Entscheidend wird sein, die Klimaneutralität auch für die Nutzungsphase, das Recycling und die Wiederverwertung zu erreichen. Das wäre dann das Ideal einer klimaneutralen zirkulären Wirtschaft. Das ist sehr anspruchsvoll, das wird ein langer Weg.

Mir ist wichtig, dass wir auf diesem Weg wettbewerbsfähig bleiben. Wir sehen aktuell etwa bei den Autoherstellern, unter welchem Kostendruck sie stehen: Mit E-Autos erzielen sie derzeit viel weniger Gewinn als mit Verbrennern, wenn überhaupt. Diesen Druck geben sie an uns Zulieferer weiter. Das führt dazu, dass auch wir nicht mehr so profitabel arbeiten können wie noch vor einigen Jahren.

Ist dies auch die Ursache für den gerade beschlossenen Personalabbau und die Umstrukturierungen bei Continental, gerade im Automobilbereich?

Unser Ziel ist ein nachhaltig profitabler Unternehmensbereich Automotive, der aus eigener Kraft Investitionen in seine Zukunft tätigen kann. Dazu vereinfachen und verschlanken wir unsere Geschäfts- und Verwaltungsstrukturen und avisieren dadurch in den Verwaltungsstrukturen eine jährliche Kostenentlastung von 400 Millionen Euro ab 2025.

Diese soll über ein Spektrum von Maßnahmen über alle Teile und Ebenen der Organisation erreicht werden. Wie viele Arbeitsplätze genau betroffen sind, steht daher noch nicht abschließend fest. Die Zahl dürfte aber voraussichtlich im mittleren vierstelligen Bereich liegen. Wir planen, alle Maßnahmen so sozialverträglich wie möglich zu gestalten.

Aktuelle Fahrberichte und Autotests. Kostenlos vom ADAC

In ADAC Reifentests schneiden Continental-Pneus genau wie die von andere Premium-Herstellern gut oder sehr gut ab. Bei den ADAC Tests spielt die Umweltbilanz eine große Rolle, sie zahlt mit 30 Prozent auf das Gesamtergebnis ein. Mit welchen Innovationen wollen Sie sich von der Konkurrenz abheben?

Wir haben mit dem UltraContact NXT einen Reifen, der aus einem Anteil von bis zu 65 Prozent aus nachwachsenden und wiederverwerteten Materialien besteht. Damit haben wir als erster Hersteller einen Reifen mit sehr hohem Anteil nachhaltiger Materialien in Serie gebracht. Die Gummimischung enthält unter anderem Silica aus der Asche von Reishülsen, also ein Abfallprodukt der Landwirtschaft.

Wir verwenden für diesen Reifen Harze, die als Reststoffe in der Papier- und Holzindustrie anfallen, und die Hochleistungs-Polyesterfasern für die Reifenkarkasse stammen aus recycelten PET-Flaschen, die sonst häufig in Verbrennungsanlagen oder auf Deponien landen.

Und am Ende müssen diese nachhaltigen Produkte auch auf der Straße performen. Der UltraContact NXT hat beispielsweise im EU-Reifenlabel in den Bereichen Rollwiderstand, Nassbremsen und Außengeräusch die Bestnote "A" bekommen. Leistung, Sicherheit und Nachhaltigkeit gehen hier Hand in Hand. Sind Sie Fahrradfahrer?

Natürlich – wenn es nicht gerade regnet oder schneit.

Dann möchte ich Ihnen unsere Fahrradreifen empfehlen, da sind wir sehr innovativ und nachhaltig unterwegs. Continental hat mit dem Urban Taraxagum ein Modell entwickelt, dessen Laufstreifen aus Löwenzahn-Kautschuk hergestellt wird. Und das auch noch in Deutschland. Von Hand übrigens. Da haben wir also alle Dimensionen der Nachhaltigkeit in einem: lokale Produktion mit kurzen Wegen. Der soziale Aspekt sicherer Arbeitsplätze und die ökologischen Anforderungen werden hier idealtypisch erfüllt.

Das klingt ja sehr fortschrittlich. Aber werden sie von Ihren Kunden und Kundinnen auch gekauft?

Die Kaufkriterien bei Endverbrauchern unterscheiden sich von Land zu Land. Insgesamt achten immer mehr Kunden beim Konsum auf nachhaltige Aspekte. Wir sind uns sicher, dass diese Entwicklung in Zukunft weiter fortschreiten wird und beobachten bereits heute eine hohe Nachfrage. Dies gilt auch für unseren Löwenzahn-Fahrradreifen. Es geht darum, bei den Kundinnen und Kunden ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man über seinen Konsum einen Beitrag zum nachhaltigen Wirtschaften leisten kann.

Sind autonomes Fahren und Künstliche Intelligenz Technologien, die die Mobilität bald zuverlässiger, umweltfreundlicher und nachhaltiger machen – oder nur teure Spielereien in Luxus-Automobilen?

Da sehen wir große Chancen mit vielen Anwendungsmöglichkeiten: KI könnte uns dabei unterstützen, unsere Interaktion mit dem Fahrzeug zu verbessern. Und das autonome Fahren hat das Potenzial, den Arbeitskräftemangel im Transportbereich zu mildern.

Und auch abseits vom Straßenverkehr ist diese Technik interessant: Unser vollautonomer Agrarroboter Contadino kann die Saat, die Unkraut- und Schädlingsbekämpfung sowie die Düngung auf dem Feld komplett autark oder im Flottenverband übernehmen. Wenn die Hightech-Agrarroboter ausschwärmen, trägt das zur weiteren Entlastung der Beschäftigten in der Landwirtschaft bei.